Verstohlene Kuesse
mit überzeugender Einfachheit. »Wenn sie noch am Leben wäre, hätte sie sich längst mit mir in Verbindung gesetzt.«
»Ich verstehe.«
»Wie gesagt, wir haben einander sehr gern gehabt. Wissen Sie, keine von uns hat noch irgendwelche Verwandten, und so hatten wir geplant, soviel wie möglich zu sparen und eines Tages in ein kleines Häuschen auf dem Land zu ziehen. Aber das wird nicht mehr geschehen.«
Judiths leise, stoische Verzweiflung brach Emma beinahe das Herz. »Das tut mir wirklich furchtbar Leid.«
Judith atmete tief durch. »Sie sagten, Sie hätten eine Nachricht von ihr?«
»Bitte lassen Sie es mich erklären. Ich hatte bis vor kurzem eine Anstellung als Gesellschafterin. Vor ein paar Tagen habe ich meine Arbeitgeberin zu einer Landparty nach Ware Castle begleitet.«
Judiths Miene spannte sich sichtlich an. »Dort hat Sally als Gesellschafterin von Lady Ware gearbeitet.«
»Ich weiß. Zufällig wurde mir das Zimmer zugewiesen, das bis vor wenigen Monaten von Miss Kent bewohnt gewesen war.« Emma griff in ihre Tasche und zog Sallys Brief heraus. »Den hier habe ich hinter einem Stickbild gefunden. Er war an Sie adressiert.«
»Gütiger Himmel.« Judith riss ihr das Schreiben geradezu aus der Hand und öffnete es mit einer Miene, die verriet, dass sie sich vor dem Inhalt zu fürchten schien. Eilig überflog sie den Brief, und als sie wieder aufblickte, schimmerten in ihren Augen Tränen. »Bitte verzeihen Sie. Aber jetzt weiß ich mit Bestimmtheit, dass sie nicht mehr lebt. Er hat sie umgebracht.«
Emma erschauderte. »Was sagen Sie da? Wollen Sie damit andeuten, dass Sally von Basil Ware ermordet worden ist?«
»Genau das will ich damit sagen.« Judiths Hände umklammerten den Brief. »Und wegen seines Reichtums und seiner gesellschaftlichen Position wird man ihn dafür niemals zur Verantwortung ziehen.«
»Aber weshalb hätte er so etwas tun sollen?«
»Weil sie ihm lästig wurde, weshalb sonst? Wissen Sie, Sally war eine wunderschöne Frau. Sie war sich sicher, dass sie mit Ware fertig werden würde. Ich habe sie gewarnt, aber sie hat nicht auf mich gehört. Ich nehme an, dass sie sich von ihm hatte verführen lassen. Sie hatte einen Plan, aber wie der aussah, hat sie mir nicht erzählt.«
»Was für ein Plan könnte das Ihrer Meinung nach gewesen sein?«
»Ich nehme an, sie hat behauptet, sie erwarte ein Kind von ihm. Wahrscheinlich wollte sie ihn dazu bewegen, dass er ihr Geld verspricht dafür, dass sie sang und klanglos verschwindet.«
»Ich verstehe.«
Judith blickte auf den Brief. »Ich habe sie davor gewarnt, ein solch entsetzliches Risiko einzugehen. Aber sie war fest entschlossen, uns beide davor zu bewahren, als Gesellschafterinnen unsere Tage zu fristen, bis es zu spät für etwas anderes ist. Offenbar war Ware angesichts ihrer Forderungen außer sich vor Zorn und hat sie einfach umgebracht.«
Emma stieß einen Seufzer aus. Das, was Judith ihr erzählte, klang nicht allzu logisch, dachte sie. Reiche, gesellschaftlich hochstehende Schwerenöter hatten es nicht nötig, ihre kleinen Geliebten umzubringen, wenn sie ihnen lästig wurden. Sie ließen sie einfach fallen und taten, als wäre nie etwas geschehen. Es war klar, dass Judith außer sich vor Trauer war und das Bedürfnis verspürte, Sallys Verführer die Schuld zu geben am Tod der jungen Frau.
»Selbst wenn Sally eine Liaison mit Mr. Ware hatte«, setzte Emma vorsichtig an. »dann hätte er deshalb noch lange keinen Grund gehabt, sie umzubringen, Miss Hope. Wie diese Dinge laufen, wissen Sie ebenso gut wie ich. Wenn er ihrer überdrüssig geworden wäre, hätte er sie einfach aus seinen Diensten entlassen. Was, den Angestellten der Burg zufolge, offenbar auch geschehen ist.«
»Wenn er sie hinausgeworfen hat, wo ist sie dann?«, fragte Judith voller Zorn. »Weshalb hat sie dann diesen Brief nicht abgeschickt?«
Emma zögerte. »Ich kann Ihnen nicht alle Ihre Fragen beantworten, aber ich kann Ihnen sagen, dass dieser Brief nicht das Einzige war, was sie zurückgelassen hat.«
»Was wollen Sie damit sagen ?«
Emma blickte in Richtung der Salontür, um sicherzugehen, dass sie geschlossen war. Dann hob sie eilig die Röcke ihres neuen Spazierkleids an, griff in eine der Taschen, die sie um den Leib gebunden hatte, zog die sorgsam zusammengefalteten Geldscheine und das Taschentuch hervor, und reichte sie Miss Hope.
»Ich verstehe nicht.« Judith starrte ungläubig auf das Geld. »Woher haben Sie -«
»Pst.« Emma
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