Verstohlene Kuesse
blickte bedeutungsvoll zur Tür. Für den Fall, dass die Haushälterin ihr Ohr an das Holz gepresst hatte, beugte sie sich ein Stückchen vor und senkte ihre Stimme auf ein Flüstern herab. »Ich an Ihrer Stelle würde kein Wort darüber verlieren.«
»Aber das ist ... das ist ein Vermögen«, flüsterte Judith zurück.
»Ich habe die Scheine und das Taschentuch zusammen mit dem Brief entdeckt. Es ist offensichtlich, dass Sally das Geld für Sie bestimmt hatte. Ware muss es ihr gegeben haben, also hat es ihr gehört, und sie wollte es an Sie weitergeben.«
»Aber -«
Emma nahm Judith das Taschentuch aus der Hand und faltete es auseinander, so dass eine ungewöhnliche karminrot-purpurfarbenen Blüte zu Tage trat. »Eine wirklich wunderschöne Arbeit«, sagte sie. »Allerdings habe ich eine solche Blüte noch nie gesehen. Ich frage mich, ob sie vielleicht etwas Ähnliches in Lady Wares Wintergarten gesehen hat.«
Judith starrte sprachlos die Blüte an. »Sie hat mir einen ganzen Garten auf diverse Taschentücher gestickt. Sie wusste, wie sehr ich ungewöhnliche Blüten liebe. Sie hat immer gesagt, eines Tages hätten wir einen echten Garten mit echten Blumen, dann bräuchte ich die Stickerei nicht mehr.«
»Ich verstehe.« Emma erhob sich von ihrem Platz und sagte wieder in normaler Lautstärke: »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen, mache ich mich wieder auf den Weg, Miss Hope. Ich habe heute Nachmittag um fünf noch eine Verabredung mit meinem, äh, Verlobten, zu einer Spazierfahrt durch den Park.«
Judith stand ebenfalls langsam auf. »Ja, natürlich.« Sie schluckte. »Miss Greyson, ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.«
»Sie brauchen sich nicht zu bedanken.« Wieder senkte Emma ihre Stimme auf ein Flüstern herab. »Ich wünschte nur, Ihre Freundin Sally wäre hier, damit Sie beide gemeinsam nach dem kleinen Häuschen gucken könnten.«
»Das wünschte ich auch.« Judith schloss kurz die Augen. »Meine wunderbare, allzu kühne Sally. Hätte sie doch nur auf mich gehört.«
»Ich nehme an, Sie haben ihr vernünftigerweise geraten, dass sie sich nicht in Mr. Ware verlieben soll.« Abermals stieß Emma einen Seufzer aus. »Es ist immer ein Fehler, wenn man eine Romanze mit seinem Arbeitgeber beginnt.«
»Eine Romanze?« Judith riss die Augen auf. »Was auch immer auf Ware Castle geschehen ist, ich kann Ihnen versichern, dass Sally in Basil Ware ganz sicher nicht verliebt gewesen ist.«
»Wie können Sie sich da so sicher sein?«
Judith zögerte. »Ohne allzu deutlich werden zu wollen, Miss Greyson, kann ich Ihnen glaubhaft versichern, dass Sally keinen Gefallen an Männern fand. Es ist also unvorstellbar, dass sie eine Affäre mit Ware genossen haben soll.«
»Ich verstehe.«
»Falls sie sich hat verführen lassen, dann in der Hoffnung, etwas Geld dabei herauszuschlagen. Sie hat immer gesagt, am besten nimmt jeder Mensch sein Schicksal in die Hand.«
»Sally hat dafür gesorgt, dass Sie genug Geld haben, um Ihr Schicksal in die Hand nehmen zu können, Miss Hope. Was werden Sie also jetzt tun?«
Judith blickte zur Decke, und zum ersten Mal seit Emmas Eintreten lächelte sie. Es war ein dünnes, grimmiges Lächeln, aber es war echt. »Tja, ich glaube, als Erstes werde ich meinen Posten kündigen.«
Emma feixte sie zufrieden an. »Etwas in meinem Inneren sagt mir, dass Sally genau das gewollt hätte.«
»Sie haben große Fortschritte erzielt, Edison.« Ignatius Lorring reichte Edison ein Glas Brandy, ehe er seine vogelähnliche Gestalt in den zweiten Ohrensessel sinken ließ. »Natürlich habe ich nichts anderes erwartet«, fuhr er fort. »Sie waren der beste Schüler, den ich jemals hatte. Wenn ich bedenke, wie weit Sie es im Zirkel von Vanza hätten bringen können -«
»Wir wissen beide, dass Vanza auf Dauer für mich einfach nicht das Richtige gewesen wäre«, antwortete Edison.
Das Zimmer war unangenehm warm. Trotz des milden, sonnigen Tages loderte ein Feuer im Kamin. Doch Edison enthielt sich eines Kommentars. Ignatius trug einen Wollschal um den Hals, als säße er inmitten eines Schneesturms und nicht in seiner behaglichen Bibliothek. Auf dem kleinen Tischchen neben seinem Sessel stand ein kleiner blauer Flakon, der, wie Edison wusste, ein Opiumgebräu enthielt. Vielleicht Laudanum, dachte er.
Edison sah sich in dem vertrauten Zimmer um. Hier hatte seine Verwandlung vom wilden, draufgängerischen Jugendlichen zum beherrschten Mann seinen Anfang genommen, dachte er. Hier, in
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