Verstohlene Kuesse
soll das sein?«
»Miss Sally Kent.«
»Den Namen habe ich noch nie gehört.« Die Haushälterin wollte die Tür schon wieder schließen, als Emma beherzt einen Fuß dazwischen stellte und durch den dämmrigen Flur in Richtung einer schmalen, steilen Treppe sah.
»Sie werden Miss Hope davon in Kenntnis setzen, dass sie eine Besucherin hat«, wies sie die Haushälterin entschieden an. »Also, hören Sie -«
»Ist etwas nicht in Ordnung, Mrs. Bowie?«, fragte plötzlich eine müde Frauenstimme vom oberen Ende der Treppe her.
Mrs. Bowie bedachte Emma mit einem bösen Blick. »Ich verabschiede gerade diese Lady hier. Sie hat sich in der Adresse geirrt.«
»Ich bin gekommen, um Miss Judith Hope zu sprechen, und ich werde nicht eher wieder gehen, als bis sie mich empfangen hat«, mischte sich Emma lautstark ein.
»Sie wollen zu mir?« Die Stimme der Frau drückte ehrliche Verblüffung aus. »Falls Sie Miss Hope sind, ist die Antwort ja. Meine Name ist Emma Greyson. Ich habe eine Nachricht von Sally Kent.«
»Großer Gott. Eine Nachricht von Sally? Aber ... aber das ist unmöglich.«
»Falls Sie so freundlich wären und mich für ein paar Minuten empfangen würden, könnte ich Ihnen alles erklären, Miss Hope.«
Judith zögerte, doch schließlich nickte sie. »Lassen Sie sie herein, Mrs. Bowie.«
»Sie wissen ganz genau, dass die gnädige Frau keine Besucher haben will«, knurrte die Haushälterin.
»Miss Greyson ist nicht Mrs. Mortons, sondern meinetwegen hier.« Plötzlich verriet Judiths Ton eine gewisse Entschiedenheit. »Lassen Sie sie sofort herein.«
Immer noch hatte Mrs. Bowie einen rebellischen Gesichtsausdruck, doch Emma bedachte sie mit einem kühlen Blick, trat an ihr vorbei in die düstere Eingangshalle und wandte sich an Judith Hope, die die Treppe halb heruntergekommen war. Sofort kam sie zu dem Schluss, dass die Frau einen vollkommen falschen Namen trug. Hope , Hoffnung, war ein Wort, dessen Bedeutung ihr ganz sicher nicht geläufig war.
Judith mochte nicht älter als Ende zwanzig sein, aber ihr ehemals sicher attraktives Gesicht wurde bereits von Falten der Resignation zerfurcht. Sie trug ein langweiliges, dunkelbraunes Kleid, ihr Haar hatte sie unter einer schlichten Haube zu einem Knoten zusammengesteckt, und nur ihr nach vorn gerecktes Kinn verriet einen gewissen Stolz und eine Art grimmiger Entschlossenheit.
Mit kerzengeradem Rücken durchschritt sie den kleinen Flur. »Bitte kommen Sie doch in den Salon, Miss Greyson.«
Emma folgte ihr in einen Raum, dessen Fenster hinter schweren Vorhängen versteckt waren, und nahm auf dem fadenscheinigen Sofa Platz. Es brannte kein Feuer im Kamin, und Judith öffnete weder die Vorhänge noch zündete sie auch nur eine Kerze an. Stattdessen setzte sie sich steif auf einen Stuhl, faltete die Hände im Schoß und sah Emma reglos an.
»Bitte verzeihen Sie, dass ich ohne Anmeldung einfach so bei Ihnen hereinplatze, Miss Hope.«
Zum ersten Mal flackerte die Spur eines Gefühls in Judiths Augen auf. »Ich versichere Ihnen, es stört mich keinesfalls, Miss Greyson. Sie sind die erste Besucherin, die ich seit Antritt meiner Stelle vor sechs Monaten hier empfange. Meine Arbeitgeberin hat es nicht gerne, wenn jemand kommt. Ebenso wenig wie sie kaum je das Haus verlässt.«
Emma blickte in Richtung der Decke, wobei sie wortlos auf die Zimmer wies, in denen die geheimnisvolle Mrs. Morton zu residieren schien. »Hat Ihre Arbeitgeberin auch etwas gegen meinen Besuch?«
»Wahrscheinlich. Sie hat gegen alles etwas einzuwenden, angefangen beim Geschmack der Suppe bis hin zu den Büchern, die ich ihr vorlese.« Judiths Hände verkrampften sich. »Aber ich bin bereit, ihren Zorn auf mich zu ziehen, wenn ich dafür Neuigkeiten von Sally bekomme«, fügte sie hinzu.
»Ich bin nicht sicher, wie ich anfangen soll. In Wahrheit weiß ich nichts von Sally. Ich habe sie nie kennen gelernt.«
»Ich verstehe.« Judith blickte auf ihre gefalteten Hände. »Das überrascht mich nicht. Ich weiß bereits seit einigen Monaten, dass sie höchstwahrscheinlich nicht mehr am Leben ist.«
»Nicht mehr am Leben?« Emma starrte sie entgeistert an. »Wie können Sie da sicher sein?«
Judith blickte in Richtung der verhangenen Fenster. »Sally und ich waren Freundinnen. Wir standen einander ... sehr nahe. Ich denke, ich wüsste, wenn sie noch am Leben wäre.«
»Und weshalb meinen Sie, dass sie es nicht ist?«
»Ich habe seit Monaten nichts mehr von ihr gehört«, erklärte Judith
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