Verstohlene Kuesse
abgrundtiefer Erleichterung. Anders als die erbärmliche Kammer auf Ware Castle war dieses Zimmer mit seinen gelbweiß gestreiften Tapeten und den weißen Vorhängen freundlich und einladend. Sogar die Aussicht auf den gegenüberliegenden baumbestandenen Park war angenehm.
Sie zog ihren neuen grünen Mantel aus und ließ sich gerade auf den kleinen satinbezogenen Stuhl neben dem Schreibtisch sinken, als sie ein leises Klopfen vernahm. Mit etwas Glück wäre das bereits der Tee.
»Herein.«
Die Tür ging auf, und Bess, eins der Mädchen, betrat, gefolgt von zwei Dienern, den Raum. Sie alle waren mit Schachteln und Kästen bepackt.
»Die gnädige Frau hat gesagt, dass ich all Ihre wunderbaren neuen Sachen wegräumen soll.« Bess sprudelte geradezu über vor Begeisterung. »Sie hat gesagt, dass ich von jetzt an Ihre persönliche Kammerzofe bin.«
Ihre persönliche Kammerzofe, wiederholte Emma in Gedanken. Ihr Leben hatte während der letzten paar Tage wirklich einen dramatischen Wandel durchgemacht. Sie hatte das Gefühl, als lebe sie mit einem Mal in einer Märchenwelt.
Sie blickte in Richtung der zahllosen Schachteln, die in ihr Schlafzimmer geschleppt wurden. Hier bekäme sie ganz sicher keine Ruhe, dachte sie. Ohne Frage würde Bess jedes einzelne Paar neuer Handschuhe, jedes einzelne neue Hütchen, jeden einzelnen neuen Unterrock einer lautstarken, eingehenden Musterung unterziehen.
Sowieso wäre ein Spaziergang sicher wesentlich belebender als eine Tasse Tee. Das Bedürfnis, sich den zahllosen Anforderungen ihres neuen Postens für eine Weile zu entziehen, war beinahe überwältigend. Außerdem hatte sie noch eine private Angelegenheit zu klären, die sie während der beiden Tage seit ihrer Rückkehr nach London auf Grund ihrer Verpflichtungen gegenüber Edison immer wieder aufzuschieben gezwungen gewesen war.
»Also gut, Bess.« Emma stand wieder auf, trat an den Kleiderschrank und zog den Mantel, den sie erst vor wenigen Minuten hinein gehängt hatte, wieder heraus. »Falls Lady Mayfield nach mir fragt, sag ihr bitte, ich spaziere ein wenig durch den Park.«
»Soll vielleicht einer der Diener Sie begleiten, Ma'am?«
»Nein, ich glaube, ich komme auch ohne Hilfe über die Straße. Vielen Dank.«
Bess runzelte besorgt die Stirn. »Aber meinen Sie, Sie sollten wirklich ganz allein ausgehen, Ma'am?«
Emma zog die Brauen hoch, während sie ihren Mantel anlegte. »Weshalb um Himmels willen denn bitte nicht? Ich bin schon zahllose Male alleine durch den Park spaziert.«
Bess wurde puterrot und sah sie voller Unbehagen an. »Ja, aber das war, bevor Sie mit Mr. Stokes verlobt waren.«
Emma starrte sie entgeistert an. »Gütiger Himmel, Bess. Sorgst du dich etwa um meinen Ruf ?«
Bess senkte verlegen den Kopf. »Tja, es ist nur so, dass von verlobten Ladies ein besonderes Maß an Diskretion erwartet wird.«
»Bitte vergiss nicht, dass ich bis vor kurzem Lady Mayfields bezahlte Gesellschafterin gewesen bin, Bess. Ich versichere dir, wenn schon nichts anderes, bin ich auf alle Fälle stets diskret.«
Bess fuhr erschreckt zusammen, und Emma, die es bereits bedauerte, dem Mädchen gegenüber derart ungehalten gewesen zu sein, stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus, während sie ihre Handtasche schnappte und ihr Schlafzimmer verließ.
Sie brauchte wesentlich länger als erwartet, bis sie schließlich die gesuchte Adresse erreicht hatte. Am Ende jedoch stand Emma vor einem kleinen, düsteren Häuschen in der Twigg Lane. Sie öffnete ihre Handtasche, nahm den an Miss Judith Hope adressierten Brief heraus und sah noch einmal nach. Hausnummer elf. Dies war der gesuchte Ort.
Sie ging die Treppe hinauf und klopfte an. Während sie darauf wartete, dass man ihr öffnete, blickte sie auf die kleine Uhr, die am Oberteil ihres Kleids befestigt war. Sie könnte nicht lange bleiben, dachte sie. Edison wäre sicher verärgert, wäre sie nicht um Punkt fünf für die Spazierfahrt durch den Park bereit. Arbeitgeber erwarteten von ihren Angestellten unbedingte Pünktlichkeit.
Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis sie schließlich zögernde Schritte im Korridor vernahm und jemand die Tür einen Spalt breit öffnete. Eine säuerlich dreinblickende Haushälterin unterzog sie einer grimmigen, missbilligenden Musterung.
»Bitte informieren sie Miss Judith Hope, dass Miss Emma Greyson mit einer Nachricht von einer Freundin für sie gekommen ist.«
Argwohn verdunkelte die Miene der ältlichen Frau. »Und was für eine Freundin
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