Verstoßen: Thriller (German Edition)
Kinn behutsam an. Die Haut fühlte sich noch ganz warm an.
In der Kehle klaffte ein tiefer, fast gerader Schnitt, durch den ein knorpeliges Stück Luftröhre zu sehen war.
»Scheiße«, murmelte er. »Verdammt, Sven.«
Der Anblick von Sven tat ihm in der Seele weh. Er schnappte nach Luft. Raus hier.
Sofort.
Vorsichtig den Blutflecken ausweichend, lief er nach draußen. Steckte die Glock wieder in seinen Hosenbund, stützte sich an der Backsteinmauer ab und legte den Kopf in den Nacken. Versuchte, seinen Atemrhythmus unter Kontrolle zu bekommen.
Einatmen, ausatmen .
Die schwüle Abendluft vermochte den Geruch aus dem Operationszimmer nicht zu vertreiben. Aus der Ferne drangen Stimmen zu ihm, Gelächter, Wortfetzen, auch Rauchschwaden. Irgendwo in der Nähe wurde anscheinend gegrillt.
Ein herrlicher Sommerabend.
Seine Hände zitterten heftig, und sein Magen krampfte sich
zusammen. Er holte noch einmal tief Luft und schloss die Augen. Er durfte hier auf keinen Fall hinkotzen.
Sein Erbrochenes würde als Beweismittel in einer Plastiktüte landen und von einem fleißigen Laboranten bis ins Letzte durchanalysiert werden.
… ausatmen. Einatmen .
Er schluckte. Seufzte. Sog Luft durch die Nase ein.
Rieb sich das Gesicht.
Sein Magen beruhigte sich etwas, aber die Übelkeit blieb.
Die letzten, mit Sven verbrachten Tage zogen an ihm vorüber. Sven in dem Pariser Straßencafé, mit Sonnenbrille und Mütze, sein heikles Abenteuer im rosa Plüsch. Sven mit seinem kleinen Sohn in Jacks Appartement, selig schlummernd. Sven, apathisch den toten Thierry anstarrend. Die Bilder bestürmten Maier wie ein zu schnell ablaufender Film, so sehr er sie auch zu verscheuchen suchte. Immer weiter.
Er konnte es kaum fassen. Wollte es nicht fassen. Er wollte fluchen, um sich schlagen, sein Magazin leerballern, herausbrüllen: »Warum habt ihr nicht mich genommen? Mich, verdammt! Nicht Sven!« Doch er starrte nur geistesabwesend vor sich hin. Minutenlang.
Dann gelangten allmählich die Geräusche von der Straße wieder in sein Bewusstsein. Ein paar Jugendliche auf Fahrrädern radelten vorbei. Sie unterhielten sich mit lauten Stimmen, und ihre Räder rasselten und schepperten auf dem Klinkerpflaster.
Eine andere Welt.
Er musste hier weg, das wurde ihm allmählich klar. Ungesehen und ohne Spuren zu hinterlassen. Er war der Hauptverdächtige. Der Kangoo, der noch am Straßenrand stand, die Schlüssel im Zündschloss, war voll von Maiers DNA-Spuren. Kleine Härchen, Hautschuppen, Staub, Fingerabdrücke. Nicht mehr sauber zu kriegen. Noch die kleinste Faser war eine zu viel.
Es gab nur eine einzige Möglichkeit zu verhindern, dass wegen dieses Mords demnächst ein paar freundliche Beamte bei Susan vor der Tür stünden. Maier hatte es schon öfter getan. In einem anderen Leben, unter anderen Umständen.
Nun würde er es wieder tun.
Aber dafür musste es dunkel sein. Noch war es zu dämmrig, die schwarzen Rauchschwaden wären meilenweit zu sehen.
Das war nicht das Einzige.
Morgen früh oder heute Nacht schon würde Svens Leiche gefunden. Dann würden sie in der Nachbarschaft ihre Ermittlungen aufnehmen. Ein Kripo-Beamter würde ihm Routinefragen stellen.
Und er wusste zu viel.
Wenn er sich nicht schnell wieder in den Griff bekam, konnten sie das morgen an seinen Augen ablesen.
Der Kerl, den er gerade hatte wegrennen sehen, der Anblick der Leiche in dem Operationszimmer, Olivier, Alain und Thierry, St. Maure, Jacks Safe House: Er musste seine biologische Festplatte komplett neu formatieren und mit einer neuen Wahrheit überschreiben.
Mit einer Wahrheit, in der Sven nicht vorkam.
Er schaute in den Himmel, in dessen Dunkelblau-Schattierungen die untergehende Sonne bereits rote Streifen eingezogen hatte. In etwa einer halben Stunde wäre es dunkel. Dann konnte er mit dem Kangoo wegfahren, ohne erkannt zu werden.
Er ließ sich auf das harte Pflaster sinken und rührte sich nicht. Warten auf den Anbruch der Dunkelheit.
42
Wie ein Raubtier umkreiste Skipper eine Gruppe von Schafen, die ihn ängstlich im Auge behielten. Sie machten abrupte, ruckartige Bewegungen und stießen aneinander. Der Schäferhund hypnotisierte sie mit stechenden Blicken aus seinen gelben Augen.
»Come here«, rief Jeanny.
Skipper reagierte prompt. Flitzte auf Jeanny zu, strich mit gesenktem Kopf um ihre Beine und blickte scheu zu ihr auf, als wäre er es gewohnt, tagtäglich Prügel zu beziehen.
Durch das Tal zog sich ein kleiner Fluss, über den Susan
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