Verstoßen: Thriller (German Edition)
mit einem Sprung hinwegsetzte. Die Wiese war schon ziemlich abgegrast und sah wie ein Teppich aus, die Oberfläche federte leicht unter den Schritten. Überall lagen hart gewordene Schafskötel. Es war windig, und Susan wünschte, sie hätte einen ordentlichen Mantel mitgenommen. Das restliche Europa mochte unter einer Hitzewelle leiden – hier in Südwales merkte man davon wenig.
»Du hast mir noch gar nicht erzählt, was dich eigentlich hierher verschlagen hat«, sagte sie, als Jeanny sich wieder an ihre Seite gesellt hatte.
Am Morgen hatten sie Kaffee getrunken, Brote gegessen und über alles Mögliche geredet, nur nicht über den unmittelbaren Grund dafür, dass Jeanny die Niederlande verlassen hatte.
»Schau dich doch um.« Mit weit ausholender Geste deutete Jeanny auf die Umgebung. »Ist es hier nicht wie im Paradies?
Hügel, Weiden, kleine Baumgruppen, Hecken, schöne Höfe, freundliche Menschen und Tiere. Als wäre man in eine Ansichtskarte hineingeraten. Das hat mich hergezogen. Dieses Traumbild. Wenn man schon die eigene Identität aufgeben und seine Vergangenheit vergessen muss, dann doch möglichst in einem Land wie diesem. In einem Paradies.«
Eine Antwort auf ihre Frage war das nicht. Susan konnte schwer einschätzen, ob ihre Mutter nur eine Nebelbombe geworfen oder sie nicht verstanden hatte. Sie fragte aber nicht nach. Nachdem sie gut ausgeschlafen war, verspürte sie kein großes Bedürfnis mehr, die Sache zu forcieren.
»Mit diesem Traumbild vor Augen kam ich hierher«, sagte Jeanny. Sie steckte die Hände in die Taschen ihrer Wachsjacke. »Aber ich bin schnell dahintergekommen, dass es hier auch nicht anders ist als in den Niederlanden oder sonst wo. Nur die Aussicht ist anders. Aber eine schöne Umgebung kann die innere Leere nicht auffüllen, geschweige denn kompensieren. Man gewöhnt sich nach einer Weile daran und nimmt sie gar nicht mehr wahr.«
Skipper stürmte erneut davon, um ein paar Schafe zu terrorisieren, die ein Stück weiter oben auf dem Hügel standen. Jeanny bemerkte es nicht.
»Wenn ich in den letzten Jahren eines gelernt habe«, fuhr sie fort, »dann, dass man Dinge, die man nicht in den Griff bekommt, am besten von sich abgleiten lässt. Das geht nur, wenn man sich selbst als Zuschauer sieht. Nicht als Teilnehmenden. Man lässt Leute in die Vorhalle« – sie deutete auf ihren Kopf – »eintreten, aber nicht hier.« Jeanny legte sich die flache Hand auf die Brust. »Wenn man das einmal draufhat, dann erreicht einen nichts mehr. Dann wird alles ein bisschen einfacher.«
Susan musterte ihre Mutter schweigend. Jeannys Niederländisch hatte, anders als das von Sabine, unter der englischsprachigen Umgebung nicht besonders gelitten. Ihrer Mutter
rutschte zwar manchmal das eine oder andere englische Wort in einen Satz hinein, aber ihre Aussprache war noch genau wie früher. Bis hin zu dem weichen g. Aber auch wenn sie sich noch genauso anhörte wie vor zwanzig Jahren, etwas Wesentliches hatte sich verändert. Ihr Vater war nach Jeannys Fortgehen zum Einsiedler geworden. Seine Frau hatte sich unabhängig von ihm für denselben Weg entschieden.
»Ich hatte keine Wahl«, fuhr sie fort. »Jeanny Staal ist tot. So fühlte es sich damals schon an, und daran hat sich nichts geändert. Hier heiße ich Jane Morris. Kinder, einen Mann und ein Leben in den Niederlanden habe ich nie gehabt. Wenn dir plötzlich bewusst wird, dass du das alles loslassen musst, dass du nie mehr zurückkannst, dann ist das wirklich wie sterben. Glaub mir, hier habe ich mit der Zeit begriffen, warum sich manche Menschen, wenn sie einen Fehltritt begangen haben, lieber stellen als fliehen.«
Susan hörte aufmerksam zu und ließ die Worte ihrer Mutter auf sich wirken. Auf ihre Frage hatte sie noch immer keine Antwort bekommen. »Aber warum musstest du fortgehen?«, hakte sie vorsichtig nach. »Wenn dieser … dieser Freund als Überläufer galt, hättest du doch leicht außen vor bleiben können, oder?«
Jeannys Gesicht verzog sich zu einem bitteren Grinsen. »Nachdem Roger und Geran Carl begraben hatten, konnte ich keine Nacht mehr durchschlafen. Ich ging auch nicht mehr in den Garten. Da lag eine Leiche – von der niemand wusste, außer deinem Vater, Walter, Roger und mir. Du hast manchmal sogar draußen gespielt, mit deiner Freundin … wie hieß die noch gleich?«
» Melanie.«
»Genau, Melanie. Ich weiß noch, wie ich einmal in der Küche stand und euch am Rand des Schwimmbads stehen sah. Ganz nah bei
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