Verstoßen: Thriller (German Edition)
ihn im Wintergarten gefunden. Eher tot als lebendig.
Gestern Abend sei er kurz bei Bewusstsein gewesen, aber nicht in der Lage, zusammenhängende Sätze zu bilden. Heute Morgen sei das schon besser gegangen, und da habe er nach seinen Töchtern verlangt. Susans Handynummer habe man bei seinen Papieren gefunden und auf gut Glück angerufen. Bei Sabine in den Vereinigten Staaten sei niemand drangegangen.
Keine Stunde nachdem eine Krankenschwester mit Susan telefoniert hatte, habe er erneut einen Herzstillstand erlitten und sei reanimiert worden. Sein Zustand sei ernst, sagte Nancy, aber er befinde sich in guten Händen.
Die Schwester gab ihr ein paar Broschüren mit, die über Herzkrankheiten aufklärten, und deutete auf das Ende des Flurs, wo sich das Zimmer ihres Vaters befinde.
»Wir hatten schon Leute, die viel schlechter dran waren. So schnell werfen wir hier nicht das Handtuch!«, rief sie ihr fröhlich nach.
Von dieser Fröhlichkeit blieb wenig übrig, als Susan das Zimmer zögerlich betreten hatte. Sie erschrak über den Anblick, der sich ihr bot.
Ihr Vater war an Schläuche und Monitore angeschlossen, die seine Körperfunktionen überwachten. Sein Gesicht war fast so weiß wie das Laken, das bis zum Kinn hochgezogen war. Er schlief und atmete unregelmäßig ein und aus.
Sie zog einen Hocker unter dem Bett hervor und setzte sich. Starrte auf die Monitore, die zittrigen Linien vor schwarzem Hintergrund und die rätselhaften Zahlenwerte.
Dann erst wagte sie sich ihrem Vater zuzuwenden. Wie lange
hatte sie ihn nicht mehr gesehen? Ein Jahr, zwei Jahre? Mein Gott, es konnten sogar drei sein. Sie wusste es nicht mehr.
Älter geworden schien er, wie er da in diesem Bett lag. Viel stärker gealtert, als es nach ein paar Jahren plausibel wäre. Und ungepflegt, ja fast schon verwahrlost. Er hatte einen wüsten Bart und Brauen, deren krumme Härchen wie kleine Eisendrähte in alle Richtungen abstanden. Auch aus den Ohren und der Nase wuchsen ihm Haare. Seine Hände mit ihren gelblichen Schwielen, Narben und knorrigen Knochen waren indes immer noch groß und stark.
Was sollte sie sagen, wenn er wach würde? Fragen, wie es ihm ging? Eine bescheuertere Frage konnte man sich in dieser Situation kaum ausdenken.
»Susan? Bist du’s?« Er drehte ihr leicht den Kopf zu. Unter dem Neonlicht wirkten seine hellgrauen Augen matt und ausdruckslos.
Sie beugte sich näher zum Bett. Wusste nicht, wohin mit ihren Händen. Sollte sie ihn berühren? Erst jahrelang nicht auftauchen, den Kontakt auf kurze Telefonate beschränken und dann plötzlich als mitfühlende Mutter Teresa an seinem Krankenbett auftauchen? Nein.
Sie legte die Hände in den Schoß.
»Hör mir zu.« Seine Stimme war ein schwaches Krächzen. Sie beugte sich noch etwas weiter zu ihm vor. »Sie wollen mich enteignen.«
Was faselte er jetzt? »Warum?«
»Die Gemeinde. Sie wollen unser Haus enteignen. Wegen der neuen Autobahn.«
Sie zog die Brauen hoch. Das hatte bestimmt in der Lokalzeitung gestanden, aber die las sie nie. Aktuelle Nachrichten nahm sie normalerweise sowieso nicht zur Kenntnis. Die Neuigkeiten hatten doch meist nichts Neues an sich: Alles war schon einmal geschehen und berichtet worden. Die Geschichte wiederholte
sich unentwegt. Was wechselte, waren bloß die Pappkameraden und Schauplätze.
»Sie enteignen unser Haus.« Das Atmen fiel ihm schwer, er schloss die Augen. »Mein Haus. Unser Haus.«
Susan wusste nicht, was sie sagen sollte, also hielt sie den Mund. Wenn das stimmte, konnte sie darüber keine Sekunde lang traurig sein. Im Gegenteil: An dem Tag, an dem diese Mauern niedergerissen würden, das Dach einstürzte und die gammlige grüne Scheune, die er unbeirrbar als »Atelier« bezeichnete, nur noch ein Haufen Brennholz wäre, würde Susan eine Fahne aus dem Fenster hängen.
Das Haus war die einzige greifbare Erinnerung an das Verschwinden ihrer Mutter und ein Monument der Gefühlskälte, die in den Jahren danach dort geherrscht hatte.
Ihr Vater dachte anscheinend anders darüber. »Das dürfen sie nicht tun, Susan.«
»Papa, jetzt beruhige dich, ja? Die Welt geht doch nicht unter. Es sind nur Sand und Steine. Werd erst mal wieder gesund.«
»Das dürfen die nicht«, wiederholte er. Sein Brustkorb hob und senkte sich in schnellem Rhythmus, er atmete flach und hastig und rollte mit den Augen.
Unwillkürlich wich Susan zurück und sah auf den Monitor hinter seinem Kopf. Ein paar grüne Linien liefen senkrecht nach oben.
»Das
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