Verstoßen: Thriller (German Edition)
acht Stunden standen sie schon so da. Vierhundertachtzig Minuten. Wie Statuen. Sie hatten kaum ein Wort gesprochen. Maiers Muskeln protestierten mittlerweile deutlich.
Das Gebäude gegenüber schien verlassen. Es war keinerlei Aktivität zu verzeichnen. Mit jeder Stunde, die verstrich, nahm die Hoffnung, dass mit diesem ersten, eher dürftigen Hinweis etwas anzufangen wäre, weiter ab.
Maier wusste jedoch, dass sie sich davon nicht entmutigen lassen durften. Früher hatte er bisweilen zwei Wochen lang zehn Stunden täglich Beobachtungsposten bezogen. Hartnäckig, entschlossen, obsessiv. Irgendwann geschah immer etwas. Und so unbedeutend es auch scheinen mochte – nicht selten stellte dieses kleine Geschehen ein wertvolles Puzzleteil dar.
Observationszeit war keine verlorene Zeit. Das hatte er sich in Gedanken nun schon gut vierzig Mal wiederholt.
Um die lange Stille zu überbrücken, machten seine grauen Zellen Überstunden. In seinem Kopf reiften allerlei Ideen heran, von Pizzabote-Spielen bis Nach-dem-Weg-Fragen. Doch er verwarf sie alle. Er war fast zwanzig Jahre älter als der durchschnittliche
Pizzabote, und ohne ein Moped oder Motorrad mit Firmenaufkleber würde er sofort auffallen. Und nach dem Weg fragen? Hier, in dieser gottverlassenen Gegend, bei einem zugeketteten Tor?
Das wäre nicht überzeugend.
Solange er weder Thomas’ Aufenthaltsort noch seine Entführer kannte, musste er sich bedeckt halten. Keine schlafenden Hunde wecken.
»Verdammt, das wird doch nichts hier«, flüsterte Sven. Er schüttelte die Beine aus und ließ den Kopf um den Nacken kreisen.
»Still.«
Es näherte sich ein Auto, ein dunkelgrauer Renault 21. Es waren schon mehr Wagen vorbeigefahren, aber dieser fuhr langsamer als die anderen. Als sei er am Ziel.
Maier verspürte ein leichtes Prickeln, ein flatteriges Gefühl im Bauch. Aus zehn Metern Höhe beobachtete er, wie der Wagen vor dem Tor anhielt. Ein Mann von auffälliger Statur stieg aus. Klein, eher untersetzt. Spärlicher Haarwuchs, graue Hose, weißes Hemd. Er beugte sich beim Gehen leicht vor und bewegte sich steif, als hätte er Rückenprobleme. Sven und Maier sahen ihn zum Tor gehen und das Schloss abnehmen. Er fuhr den Renault auf den Parkplatz und kam dann zurück, um das Tor wieder zu verriegeln.
Auf dem abgetakelten Treppenabsatz vor der Tür blieb er kurz stehen und schaute um sich. Er machte keinen besonders entspannten Eindruck.
Maier und Sven hockten totenstill da, geduckt unter den kaputten, von Spinnweben überzogenen Fenstern.
Jemand öffnete die Tür. Der Ankömmling trat ein, und hinter ihm ging die Tür wieder zu.
Maier spähte zu dem Wagen hinab. Vor allem das Nummernschild ließ ihn aufmerken: Es endete auf 37. In Frankreich
konnte man am Nummernschild sehen, in welcher Region der Wagen zugelassen war. In etwa einem Jahr wäre es damit vorbei, hatte er gelesen, aber bislang ließen die letzten beiden Ziffern noch auf das jeweilige Departement schließen. Paris lag im 75sten. Der Wagen war also nicht von hier. Er hatte keine Ahnung, wo sich das 37ste Departement befand, aber das war kein Staatsgeheimnis und würde sich leicht herausfinden lassen.
Sven hatte anscheinend denselben Gedanken. Und war sogar schon einen Schritt weiter. »Indre-et-Loire«, flüsterte Sven.
Maier sah kurz zu ihm. »Was?«
»Siebenunddreißig. Das ist Indre-et-Loire. Da hab ich ein paar Jahre lang gearbeitet.«
»Hier in der Nähe?«
»Eigentlich nicht.«
Noch etwa eine halbe Stunde lang starrten sie gespannt auf die geschlossene Tür. Wieder kam Maier die Idee in den Sinn, als falscher Pizzabote unten zu klingeln, aber eine besonnene, vorsichtige Stimme in seinem Kopf warnte ihn, es nicht zu tun.
Die Minuten krochen vorbei. Noch zäher als zuvor. Während zwei Augenpaare ununterbrochen auf die Tür des Gebäudes gerichtet waren. Ab und zu auch zur Straße hinabspähten, wenn dort jemand vorbeigelaufen oder -gefahren kam. Alles blieb still.
Erst nach einer guten Stunde öffnete sich die Tür wieder.
Der Mann mit dem sonderbaren Gang trug ein Bündel im Arm zu seinem Wagen. Auf dem Fuße gefolgt von einem mageren jungen Kerl mit schmalem Gesicht und auffälligem, schulterlangem blondem Haar und in rotem, ärmellosem T-Shirt.
Maier behielt die beiden genau im Blick. Versuchte, sich die Gesichter einzuprägen, um sie bei einem nächsten Mal wiederzuerkennen. Aber vor allem zog das Bündel, das der Mann trug, seine Aufmerksamkeit auf sich. Eine graue Decke mit
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