Verstoßen: Thriller (German Edition)
nächsten zwanzig Jahre so bleiben können.
Roger Wendel sah immer noch aus wie ein amerikanischer Präsidentschaftskandidat: widerlich perfekt. Sonnengebräunte Haut, Zähne wie aus der Zahnpastareklame und kräftiges, gewelltes dunkelblondes Haar. In seinen grauen Augen lag eine vorgetäuschte Wärme und Verbundenheit, ein effektiver Rauchvorhang für die Kälte, die darunter lag. Er trug einen Anzug von Fabio Borelli und ein hellrosafarbenes Hemd aus demselben italienischen Modehaus, wie Walter an den makellosen, handgestickten Knopflöchern und den Perlmutt-Knöpfen zweifelsfrei erkannte. Sündhaft teuer. Trotzdem ging Roger nicht gerade sorgfältig damit um. Sein Jackett hing zerknittert über der Rückenlehne des Sessels, und die Manschetten des Hemds, das mindestens vierhundert Euro gekostet haben musste, waren lässig aufgerollt.
In Rogers Gegenwart war Walter sich immer irgendwie viel zu lang, linkisch und schäbig vorgekommen. Die alte Unsicherheit kehrte nun zurück.
»Hätte nie gedacht, dass wir noch mal miteinander anstoßen würden«, sagte Roger in die nach der kurzen, verlegenen Begrüßung entstandene Stille hinein. »Das Leben steckt voller Überraschungen, nicht wahr?«
Walter vermied jeden Blickkontakt auf das Sorgfältigste. »Wir hatten auch keinen rechten Anlass.«
Über den Rand seines Glases sah Roger zu ihm hinüber. »Was kann ich für dich tun, Wally?«
Allein schon mit dieser Anrede vermochte Roger ihn auch nach zwanzig Jahren noch auf die Palme zu bringen. Ich heiße Walter, hätte er am liebsten gesagt. Aber er schluckte den Protest hinunter. »Vielleicht können wir das besser draußen besprechen. Oder … oder im Auto.«
»Das scheint mir nicht nötig.«
Jemand stieß Walter mit dem Ellbogen an der Schulter an und murmelte eine Entschuldigung, die in dem allgemeinen Stimmengewirr und Gelächter unterging. Verschwörerisch beugte der Richter sich über den runden Tisch vor. »Es gibt da ein Problem«, sagte er, wobei er um sich schaute, also wäre er von lauter Undercoveragenten umgeben, die nur darauf lauerten, sich auf ihn zu stürzen. »Es ist eine Situation entstanden, die … nun ja …«
Rogers Blick war stechend.
»Ein Problem mit Geran«, fuhr Walter fort.
»Geran Staal? Habt ihr noch Kontakt?«
»Nein, das nicht. Schon seit … seit damals nicht mehr. Aber er ist letzte Woche gestorben.«
Roger war aufrichtig überrascht. Er zog die Brauen hoch. Kein Härchen saß schief, wie Walter auffiel. Wahrscheinlich schmierte er morgens Brauen-Gel von irgendeiner irre teuren Londoner Marke hinein.
»Das tut mir leid. Er hatte das Herz am rechten Fleck. Schade. Und das Haus erben jetzt seine Töchter?«
»Das Haus wird abgerissen. Darum hab ich angerufen. Die A50 wird verlängert und soll mehr oder weniger mitten durch Gerans Haus laufen.«
Einen Augenblick schien Roger aus der Rolle zu fallen. Sein Lächeln erstarb. »Das Haus ist ein Jahrhundert alt. Steht unter Denkmalschutz.«
»Geran hatte vor einer ganzen Weile ein Verfahren angestrengt, um zu verhindern, dass sein Grund und Boden enteignet würden. Sogar die Regionalpresse hat darüber berichtet.«
»Aber ohne Erfolg.«
Walter nickte. »Und nachdem er nun tot ist, steht ihnen nichts mehr im Weg.«
»Ist bald damit zu rechnen?«
»Möglicherweise schon. Ein Stück weiter haben sie schon die ersten Bäume gefällt.«
»Wegholen«, entschied Roger resolut.
»Das … das habe ich versucht.«
»Versucht?«
Walter hob die Schultern und senkte sie wieder. »Ich kann es nicht.«
»Du kannst es nicht?«
»Nein. Ich … ich geh da nicht mehr hin.«
Roger gab sich keine Mühe, seinen Ärger zu verbergen. Grimmig nahm er einen Schluck von seinem Cognac. »Das gibt Scherereien«, sagte er schließlich. »Und zwar jede Menge.«
»Nicht unbedingt«, sagte Walter rasch.
»Nein … nicht unbedingt, das stimmt.« Roger sah Walter forschend an. »Es hat sich wenig verändert, Wally, stimmt’s? Wir werden älter. Aus Bauern werden Läufer, aus Läufern Türme, und am Ende dürfen wir selbst die Figuren auf dem Brett verschieben. Aber im Wesentlichen ändert sich nichts. Es sind immer noch dieselben, die den Dreck wegmachen müssen. Wally macht sich die Hände nicht schmutzig, stimmt’s?«
Unter anderen Umständen wäre Walter schwer pikiert gewesen. Jetzt war er eher beruhigt. Roger würde ihm die Sache abnehmen.
Dieser schwenkte den französischen Cognac im Glas. »Mach dir keine Sorgen, Wally«, sagte er
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