Verstoßen: Thriller (German Edition)
ihrem Umkreis einen anderen Weg gewählt und sie allmählich ihre sozialen Ankerpunkte verloren hatte, war wohl der Preis, der für ein aufregendes und regelloses
Leben, das sich mal hier und mal dort abspielte, quer über alle Längen- und Breitengrade hinweg, gezahlt werden musste.
Alleinsein hatte sie nie als Problem empfunden, im Gegenteil. Vielleicht aus Gründen des Selbstschutzes: Binde dich an Menschen, und du wirst von ihnen verlassen.
Wie von ihrer Mutter.
Wie von Sil.
Weinte sie jetzt etwa? Sah fast so aus.
Zornig fuhr sie sich mit dem Ärmel übers Gesicht und holte tief Luft. Das war gar nicht gut. Die pure Selbstzerstörung.
Sie sollte vielleicht aufhören zu grübeln. Lieber irgendetwas anfangen.
Es gab schließlich mehr als genug zu tun.
Sie musste das Haus ausräumen. Was da alles noch herumlag und -stand, wusste sie gar nicht genau. Jedenfalls wollte sie den Kram nicht dort stehen lassen, bis der Abbruchbagger kam. In Gedanken sah sie schon die Nachbarn in den Trümmerhaufen scharren, wie Möwen auf der Müllkippe. Sah vor sich, wie sie den in der Grundschule liebevoll aus Ton getöpferten Aschenbecher mit der Aufschrift FÜR MAMA aus dem Schutt ziehen und achtlos über die Schulter wieder wegwerfen würden. Die alten Fotoalben durchstöbern. Die Tagebücher mit nach Hause nehmen und mit roten Ohren darin herumschnüffeln. Sich über den unglaublichen Saustall lustig machen, der im Laufe von ein paar Jahrzehnten bei dem kontaktgestörten Künstler und seinen beiden Töchtern entstanden war. Doch was im Hause Staal so alles vor sich gegangen war, ging niemanden etwas an.
Wirklich niemanden.
Also hatte sie schließlich nicht Sil auf seinem Handy angerufen, sondern eine Nummer aus den Gelben Seiten. Und einen Abfallcontainer bestellt.
Morgen früh würde er im Garten hinter dem Haus aufgestellt,
und dann würde sie mit dem Aufräumen anfangen. Und vor allem mit dem Aussortieren und Wegwerfen. Um den Kopf frei zu bekommen. Eine Ablenkung, um nicht nachdenken zu müssen. Nicht an Sil denken zu müssen. An den Tod ihres Vaters. Oder an ihre Mutter. Letzteres war noch am unwahrscheinlichsten.
Ihr graute jetzt schon davor.
20
»Das kannst du nicht machen, Mann!« Svens Stimme überschlug sich fast und schallte durch das kahle Badezimmer.
Vor ihnen auf den weißen Fliesen lag, in einer unnatürlichen Körperhaltung, der blonde junge Mann. Die Hände auf den Rücken gebunden. Schweißperlen im Gesicht. Das Klebeband hatte Maier ihm bereits vor einer halben Stunde unsanft vom Mund gerissen, aber er hatte dennoch so gut wie nichts gesagt. Schien vor Angst unter Schock zu stehen. Das Einzige, was man ihm mit viel Mühe hatte entlocken können, war sein Name, Thierry. Darüber hinaus hatte er nur verstört vor sich hin gestarrt. Sich abgekapselt.
Maier war selbst auch schon in einer solchen Situation gewesen. Und genau wie der Jungspund hier hatte er mit keiner Wimper gezuckt. Aber eines war sicher: Wenn dieser Thierry etwas wusste – und davon war er überzeugt –, dann würde er schon noch reden.
Maier setzte sich seitlich auf den Klodeckel und nahm eine Camel aus der Packung. Steckte sie an und inhalierte tief. »Wenn er nichts weiß«, sagte er, während er demonstrativ den Dämpfer auf die Glock drehte, »dann ist er auch nichts wert. Sag ihm das.«
Svens Blick wanderte von dem jungen Mann zu Maier und wieder zurück. »Willst du ihn ermorden, oder was? Mein Gott! Vielleicht wollte er da einbrechen oder so. Vielleicht hat er mit der ganzen Sache gar nichts zu tun. Sil, du knallst ihn jetzt doch wohl nicht ab, oder? Sag mir bitte, dass das ein Witz ist!«
»Er war heute Nachmittag dabei«, sagte Maier um einiges ruhiger, als ihm zumute war. »Der weiß genau Bescheid. Wenn er uns erklärt, wo wir hinmüssen, bleibt er am Leben. Wenn nicht, ist es hier und jetzt vorbei. Dann vertun wir bloß unsere Zeit.«
Sven zitterte und hatte vor Aufregung schweißnasse Hände. »Ich kann das nicht, Sil, ich …«
Maier explodierte fast. »Willst du deinen Sohn zurück oder nicht? Wenn der Typ nicht bald mit irgendwas rausrückt, siehst du ihn vielleicht nie wieder! Der Hund kann dir verdammt noch mal erzählen, wo sie ihn festhalten, aber er kriegt sein Scheißmaul nicht auf! Kannst du dir das vielleicht mal klarmachen? Sag’s ihm, los!«
Sven wollte etwas entgegnen, überlegte es sich aber anders. Er drehte sich um und ging vor dem Gefangenen in die Hocke. »Mein Freund will dich umbringen«,
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