Verstoßen: Thriller (German Edition)
sagte er auf Französisch.
Der Junge reagierte, indem er sich noch weiter in die Ecke zu drücken versuchte. Als könnte er durch die Wand hindurchkriechen, wenn er sich nur anstrengte.
»Du hast nur dann eine Chance, wenn du uns erzählst, wo deine Freunde meinen Sohn festhalten. Sonst kann ich nichts für dich tun, rien, aber wenn du redest, versuche ich dir zu helfen, okay?«
Keine Reaktion. Wie taubstumm hielt der Junge starr den Blick auf einen Punkt am Boden gerichtet.
Panisch schaute Sven zu Maier hinüber, der noch einmal an seiner Zigarette zog, die Glock lässig in der Rechten, den Ellbogen aufs Knie gestützt. Sein Gesicht verriet keine Gefühlsregung.
Es entstand eine unbehagliche Stille, unterbrochen nur vom schnellen Atmen des Jungen. In dem kleinen Badezimmer war es heiß und schwül. Die Ausdünstungen ihrer schwitzenden Körper beschlugen als Kondenswasser die Kacheln an der Wand und den Spiegel überm Waschbecken.
Maier musterte Sven wortlos. Dieser drehte sich zu ihm um wie zu einem geradewegs aus der Hölle hervorkriechenden Monstrum. Heute Nachmittag, als er von dem alten Fabrikgelände aus mit eigenen Augen Thomas gesehen hatte, war er noch selbst das Monstrum gewesen, blutrünstig bis dort hinaus. Ein ganzes Heer von Feinden hätte der Tierarzt mit bloßen Händen ermordet, um seinen Sohn zurückzubekommen, oder hätte zumindest den fanatischen Versuch dazu unternommen. Aber jetzt, da der Feind ein menschliches, allzu menschliches Gesicht hatte, in Todesangst auf dem Boden des Badezimmers lag und schwer atmete, war von dieser Mordlust nicht mehr viel übrig.
Nicht dass es Maier gewundert hätte. Er hatte mal ein autobiographisches Buch von einem Soldaten gelesen, der auf dem Schlachtfeld einen verletzten nach seiner Mutter schreienden Feind in den Armen gehalten und getröstet hatte, bis der andere seinen Verwundungen erlegen war. Noch die gröbsten, härtesten Kerle, die einiges mitgemacht hatten – und zu der Sorte gehörte Sven ganz sicher nicht –, wurden plötzlich von Mitgefühl überwältigt. Insofern kamen Svens Empathie für den blondhaarigen jungen Kerl und die Abscheu vor Maiers gefühlskalter Haltung nicht ganz überraschend. Sie mochten es zwar mit einem gestörten Scheißkerl zu tun haben, der Kinder entführte oder jedenfalls an ihrer Entführung beteiligt war – aber er war ein Mensch. Letztendlich waren sie das alle. Was immer sie auch auf dem Kerbholz hatten.
Aber für Empathie war es weder die richtige Zeit noch der richtige Ort. Irgendjemand musste bei der Sache bleiben.
Maier riss sich zusammen und zwang sich, alle Gefühle auszuschalten. Alle Gefühle außer Wut, Aggression und Hass. Die er nun ganz auf denjenigen richtete, der da wie ein Zenbuddhist in Trance auf die weißen Bodenfliesen starrte.
Es gelang ihm.
»So dauert das noch Stunden. Wenn nicht Tage«, sagte er zu Sven und warf seinen Zigarettenstummel achtlos in das Waschbecken.
Mit wildem Blick sah Sven ihn an. Sein Gesicht ein einziges Fragezeichen.
»Sag dem Scheißfranzosen, ich bin’s leid«, sagte Maier. Er stand auf und ging ins Wohnzimmer. »Ich hab die Schnauze voll von ihm.«
Keine zwanzig Sekunden später kehrte er ins Bad zurück, begleitet von einem ohrenbetäubenden Lärm aus dem Fernseher im Wohnzimmer. Ein Livekonzert von Phil Collins. Maier hatte den Ton voll aufgedreht. Something happened on the way to heaven .
Der Typ saß immer noch in derselben Haltung da.
Maier ignorierte die Panik in Svens Blick. Zielte mit der Glock schräg nach unten und drückte ohne Zögern ab. Der gedämpfte Knall ging im Geschmetter der Trompeten, das nachfolgende Geschrei im Gejauchze des Konzertpublikums unter. Blut floss in dünnen Strömen über die weißen Fliesen und fand seinen Weg durch die flachen Fugen. Der junge Kerl zuckte unkontrolliert mit dem Bein.
»Du hast ihm in den Fuß geschossen!«, schrie Sven.
Maier hörte ihn kaum. Der Adrenalinschub hatte ihn einen Augenblick lang erstarren lassen. Jetzt aber stürzte er sich auf sein Opfer, packte den Mann am Unterkiefer und drückte ihm die Waffe in den Mund. Dass Sven ihn von hinten umklammert hatte und »Nicht, nicht!« schrie, nahm er kaum wahr.
»Letzte Gelegenheit!«, überbrüllte Maier die Musik. »Sag es ihm, Sven! Wenn er das Maul nicht aufmacht, knall ich ihn ab!«
Sven schrie dem Franzosen etwas Unverständliches zu.
Nach ein paar Sekunden, die eine Ewigkeit zu dauern schienen, nickte der kurz, fast unmerklich mit dem Kopf.
Weitere Kostenlose Bücher