Verstoßen: Thriller (German Edition)
er zuvor schon gestoßen war.
Durch den unterirdischen Gang, dessen Zugang sich unter einer dicken Schicht Stroh in einem der Ställe verbarg, war er zu dem Labor vorgedrungen. Dieses war anscheinend verschont geblieben. Es schien auch nichts zu fehlen. Vielleicht war es unentdeckt geblieben. Beim Anblick eines auf dem Boden zu Bruch gegangenen Einweckglases runzelte er die Stirn. War es denkbar, dass dies aufs Konto seiner eigenen Leute ging? Olivier hätte die Scherben und die Sauerei nie im Leben einfach so liegen gelassen. Das Haus seiner Großtante hatte ihm immer sehr am Herzen gelegen. Während der Bauarbeiten für das Labor hatte er ständig gefegt und Staub gesaugt. Immer Angst gehabt, dass irgendwas dreckig werden könnte. Olivier hätte auf jeden Fall aufgeräumt. Hatte hier vielleicht ein Ringkampf stattgefunden? Entsprechende Spuren waren jedenfalls nicht zu finden: kein Blut. Und alles Übrige stand auch noch an Ort und Stelle.
Der Geruch des Todes wehte ihm entgegen, sobald er die Tür zur Küche öffnete. Im Flur lag Alain. Sein Gesicht zerschossen. Olivier fand er nebenan, im Salon. Er lag auf dem Rücken vor dem Fernsehschrank, die Arme lang ausgestreckt, als hätte seine Lieblingsfußballmannschaft gerade einen Volltreffer gelandet. Der Volltreffer steckte in seinem Bauch.
Von dem Kind weit und breit keine Spur. Er wusste, was das zu bedeuten hatte. Die ganze Operation war den Bach runtergegangen.
Er war noch eine gute Stunde damit beschäftigt gewesen, die stofflichen Überreste seiner Kumpel wegzuschaffen. Er hatte den Mercedes geholt, in einer Scheune geparkt und die Scheunentüren geschlossen.
Kurz hatte er mit dem Gedanken gespielt, das Labor komplett auszuräumen, das Innere des Hauses mit Benzin aus den Kanistern in der Scheune zu begießen und die ganze Chose abzufackeln. Selbst wenn das Labor unentdeckt geblieben war – als Tarnung war der Hof keinen Pfifferling mehr wert. Allerdings hatte nicht er darüber zu entscheiden.
Nachdenklich starrte Miguel auf den Computerbildschirm und nahm noch einen Schluck von dem dünnen Kaffee. Der heiße Inhalt blähte den Plastikbecher richtig auf. Er schaute nach links. Ein Junge von etwa sechzehn Jahren, vermutlich arabischer Herkunft, ging ganz in einem Online-Game auf. Rechts von ihm saß eine dunkelhäutige junge Frau in einem dünnen Blumenkleid und schrieb stirnrunzelnd eine Mail.
Genau das musste er jetzt auch tun: eine Mail schreiben. Aber es fiel ihm schwer, die richtigen Worte zu finden. Ob nun in der fremden oder in seiner eigenen Sprache, es lief auf dasselbe hinaus: Sie hatten es vermasselt. Nein, schlimmer: Er hatte es vermasselt.
Ihm stand noch deutlich vor Augen, wie entgeistert sein Chef gewesen war, als er das Kind von der Mutter weggeholt hatte. Warum eigentlich, hatte Miguel nicht recht begriffen. Er hatte den Auftrag bekommen, diesen Sven Nielsen ordentlich unter Druck zu setzen. Wie, das durfte er sich selbst aussuchen, solange dabei niemand ums Leben kam. In Kolumbien wurden jeden Tag durchschnittlich sieben Menschen entführt. Zwei- bis dreitausend im Jahr. Männer, Frauen, Kinder. Journalisten, Mitarbeiter von Hilfsorganisationen – Arme genauso wie Reiche. Es war eine effektive Methode, die eigenen Interessen durchzusetzen. Um ihre Liebsten wiederzubekommen,
waren die Leute zu allem bereit. Svens Sohn zu entführen, war ihm als das Naheliegendste erschienen. Erst die Reaktion seines Chefs hatte ihm klargemacht, dass er sich einen Schnitzer geleistet hatte. In Europa war jede einzelne Entführung eine große Schlagzeile wert. Die eines Kindes erst recht.
Per E-Mail hatte sein Chef ihm aufgetragen, den Kleinen sofort zurückzubringen. Aber als Miguel in St. Maure angekommen war, war der Junge nicht mehr dort gewesen. Jemand war ihm zuvorgekommen.
Wie auch immer. Er hatte die ganze Operation jedenfalls sträflich unterschätzt.
Damit musste er nun allein fertig werden.
Er loggte sich in sein Hotmail-Account ein und tippte eine Nachricht. Er fasste sich kurz und bat ausdrücklich um Instruktionen. Formulierte vorsichtshalber so, dass die Mail, wenn sie in falsche Hände geraten sollte, wenig hergeben würde.
Er schickte die Nachricht ab und schlenderte zur Kaffeemaschine. Wenn sein Chef nicht jetzt sofort antwortete, dann bestimmt noch vor zehn. Mit einem Plastikbecher voll heißem Kaffee setzte er sich wieder vor den Computer und schlug die Zeit tot, indem er im Internet surfte.
Hin und wieder glitt sein Blick zu
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