Verstoßen: Thriller (German Edition)
zog den Jungen an sich. »Thomas, bist du wach? Thomas, ich bin’s, Papa. Papa ist bei dir.«
Zwei kleine Arme kamen zum Vorschein und klammerten sich an Sven fest. »Ich will zu Mama«, kam eine schüchterne Stimme unter der Decke hervor.
»Wir fahren zu Mama, Liebling, wir fahren jetzt zu Mama.«
Maier schwieg. Sven legte den unversehrten Arm um sein Kind, Tränen liefen ihm über die blassen Wangen. Immer wieder flüsterte er seinem Sohn zu, dass alles gut werden würde, dass sein Vater bei ihm sei und dass sie jetzt nach Hause führen.
Maiers Wut ebbte langsam ab.
Welchen Grund Sven auch immer gehabt haben mochte, ihn anzulügen, die Sache konnte warten.
28
Miguel saß in einem Internetcafé im Süden von Paris und loggte sich in sein Account ein. Das tat er immer montags, mittwochs und freitags gegen halb neun Uhr abends. Dann erstattete er Bericht, selbst wenn es nichts zu melden gab. Er starrte auf den Bildschirm, doch was er vor sich sah, war nicht die Startseite von Wanadoo.
Sondern das Blutbad. Anders ließ sich, was er vor nicht einmal vier Stunden in St. Maure angetroffen hatte, nicht beschreiben. Bilder, wie er sie zuletzt in Kolumbien gesehen hatte. Und wenn er ehrlich war: In Kolumbien war es schlimmer gewesen. Viel schlimmer. In seiner Heimat, wo das Chaos regierte, war es in den letzten Jahren üblich geworden, Leuten erst die Kehle durchzuschneiden und sie dann in Stücke zu hacken.
Seine Männer waren zumindest körperlich noch ganz gewesen, als er sie gefunden hatte.
Aber trotzdem mausetot.
Als auf seine Telefonanrufe niemand reagiert hatte, hatte er gleich gewusst, dass die Kacke am Dampfen war. Thierry hatte sein Handy manchmal einfach ausgeschaltet, was Miguel extrem auf die Nerven ging, aber Alain und Olivier gingen immer sofort dran. Diesmal jedoch nicht, und das war ausgesprochen sonderbar. Eine Abweichung von der üblichen Prozedur.
Er war sofort in den Wagen gesprungen.
Anderthalb Kilometer vom Hof entfernt hatte er Thierrys 190er Mercedes entdeckt, geparkt hinter einem Waldstück. Jeder normale Bürger wäre einfach daran vorbeigelaufen, aber
seinem geübten Auge war das unnatürliche Glitzern von Metall und Glas nicht entgangen. Im Kofferraum hatte Thierry selbst gelegen – beziehungsweise das, was von ihm übrig war. Ein brauner, blutverklebter Klumpen Fleisch, der bereits zu verwesen angefangen hatte. Die Hitze im Kofferraum hatte den Prozess wahrscheinlich beschleunigt. Der Gestank war nicht zum Aushalten.
Kurz, nur ganz kurz, schoss ihm eine plausible Erklärung durch den Kopf: Alain und Olivier hatten genug gehabt von Thierry und ihn auf brutale Weise aus dem Weg geräumt. Miguel hätte sich nicht darüber gewundert. Bei seinen Kompagnons hatte Thierry sich nicht gerade beliebt gemacht.
Aber der Fundort sprach eindeutig gegen diese Version der Geschichte. So knallblöde waren sie nicht, das Auto mit der Leiche im Kofferraum außerhalb des Geländes abzustellen.
Auf Umwegen und mit gesteigerter Wachsamkeit näherte er sich dem Hof. Unterwegs traf er auf Spuren. Er hatte jahrelang im Urwald gearbeitet und gelernt, dass die Natur Bände sprach, wenn man ein Auge dafür hatte. Wusste, worauf man achten musste. Zerbrochene Äste und dünne, biegsame Zweige, die sich alle in derselben Richtung hinter stärkeren Zweigen und Ästen festgehakt hatten. Undeutliche Fußabdrücke im Boden. Winzige schwarze Baumwollfäden, die ihm unmissverständlich zuflüsterten, dass vor nicht langer Zeit schon mal jemand sich seinen Weg durch dieses Gestrüpp gebahnt hatte.
Beim Haus war er mindestens ebenso umsichtig vorgegangen. Ganz langsam, mit Späherblick und gespitzten Ohren, um keine Bewegung und kein Geräusch zu verpassen, hatte er die unmittelbare Umgebung vom Hof durchkämmt. Dortselbst hatte er den Renault von Olivier und den Lieferwagen von Alain gefunden, Letzteren mit zertrümmerter Windschutzscheibe. Ein kurzer Blick auf die Autos sagte ihm eigentlich schon, dass die Eigentümer dieser Wagen nicht mehr darin fahren würden.
In dieser Vermutung bestärkten ihn die Patronenhülsen, die den Hof übersäten. Und das Blut. Undeutliche Schleifspuren, die zur Haustür führten. Und noch mehr entdeckte er. Einen Brombeerstrauch beispielsweise, in dem es sich jemand über längere Zeit hinweg gemütlich gemacht zu haben schien. Davon zeugten die platt gedrückten Blätter und Zweige sowie weitere schwarze Fussel, die in den Dornen hängen geblieben waren. Derselbe Stoff, auf den
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