Versuchung Pur
und er wollte sich nicht in ihre Privatsphäre drängen. Sie würde sie nicht teilen wollen, vor allem nicht mit ihm. Und noch während er sich ermahnte, wieder zu verschwinden, ging er auf sie zu.
»Eden.«
Als sie ihren Namen hörte, schoss ihr Kopf hoch. Ihre Augen schwammen in Tränen, doch Chase erkannte das Erschrecken und die Scham in ihrem Blick, bevor sie sich über die Augen wischte.
»Was tust du hier?«
»Ich wollte dich sehen.« Es hörte sich klar und einfach an, doch es beschrieb nicht im Entferntesten, was wirklich in ihm vorging. Er wollte sie in seine Arme ziehen und in Ordnung bringen, was auch immer schiefgelaufen war. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und blieb in der Nähe der Tür stehen. »Ich habe das mit dem Wallach erst heute erfahren. Ist es schlimmer mit ihm geworden?«
Sie schüttelte den Kopf und bemühte sich, ihre Stimme ruhig klingen zu lassen. »Nein, es geht ihm viel besser. Es war nicht so schlimm, wie wir befürchtet hatten.«
»Das ist gut.« Frustriert begann er, auf und ab zu gehen. Wie konnte er sie trösten, wenn sie die Probleme nicht mit ihm teilen wollte? Ihre Tränen waren versiegt, doch er wusste, es war allein ihr Stolz, der sie Haltung bewahren ließ. Zum Teufel mit ihrem Stolz, dachte er. Er hatte das Bedürfnis, ihr zu helfen.
Als er sich wieder zu ihr umdrehte, stand sie beim Schreibtisch. »Warum erzählst du mir nicht, was los ist?«
Der Drang, sich ihm anzuvertrauen, war so überwältigend, dass sie sich wie gewöhnlich hinter ihrem Schutzschild versteckte. »Gar nichts ist los. Die letzten beiden Wochen waren anstrengend. Vermutlich bin ich übermüdet.«
Da war noch mehr, das wusste er. Auch wenn sie tatsächlich müde aussah. »Machen die Mädchen Probleme?«
»Nein, die Mädchen sind wunderbar.«
Frustriert suchte er nach einer anderen Erklärung. Das Radio spielte romantische Musik. Chases Blick fiel auf den aufgeschlagenen Ordner. Das Papier aus der Addiermaschine hing vom Schreibtisch fast bis auf den Boden hinunter. »Geht es um Geld? Ich kann helfen.«
Mit einem scharfen Knall schlug Eden das Buch zu. Die Erniedrigung stieg bitter in ihrer Kehle auf. »Uns geht es bestens«, behauptete sie mit ebener, kühler Stimme. »Wenn du mich dann entschuldigen würdest … Ich habe noch einiges zu erledigen.«
Zurückweisung war eines der Dinge, die Chase nie wirklich verstanden hatte. Bis er sie getroffen hatte. Doch es war ihm egal. Er nickte langsam, bemühte sich um Geduld. »Das sollte ein Hilfsangebot sein, keine Beleidigung.« Eigentlich hätte er sich jetzt umdrehen und gehen müssen, wären da nicht ihre großen verweinten Augen und ihr müdes, blasses Gesicht gewesen. »Es tut mir leid, was du im letzten Jahr hast durchmachen müssen, Eden. Ich wusste, dass du deinen Vater verloren hast. Doch ich hatte keine Ahnung, wie es um den Besitz stand.«
Wie sehr sie sich wünschte, die Hand nach ihm auszustrecken und sich in seine Arme zu schmiegen! Wie sehr sie sich wünschte, von ihm den Trost zu bekommen, den sie so nötig brauchte! Sie wollte ihn fragen, was sie tun sollte, und er würde ihr all die richtigen Antworten geben. Doch würde das nicht auch heißen, dass all die Monate, in denen sie um ihre Unabhängigkeit gekämpft hatte, umsonst gewesen wären? Sie reckte die Schultern. »Es muss dir nicht leidtun.«
»Hättest du es mir erzählt, wäre es einfacher gewesen.«
»Es ging dich nichts an.«
Er hätte die Bemerkung ignorieren können, doch stattdessen war er verärgert. »Nicht? Da hatte ich aber einen anderen Eindruck, und ich habe ihn noch immer. Willst du mir allen Ernstes in die Augen sehen und behaupten, zwischen uns wäre nichts?«
Das konnte sie nicht. Aber sie war zu verwirrt, zu verängstigt, um überhaupt den Versuch zu wagen, zu erklären, was zwischen ihnen war. »Ich weiß nicht, was ich für dich fühle, Chase. Ich weiß nur, dass ich nichts fühlen will. Und vor allem will ich dein Mitleid nicht.«
In seinen Taschen ballte er die Fäuste. Er wusste selbst nicht, wie er mit seinen Gefühlen umgehen sollte. Und sie ging mit seinen Gefühlen um, als wären sie ohne Bedeutung. Es gab jetzt zwei Möglichkeiten für ihn: Er konnte gehen, oder er konnte betteln. Aber das waren keine echten Möglichkeiten. »Es besteht ein Unterschied zwischen Mitgefühl und Mitleid. Wenn du diesen Unterschied nicht kennst, gibt es nichts mehr zu sagen.«
Er wandte sich um und ging. Hinter ihm fiel die Tür leise quietschend ins
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