Versuchung Pur
grundlegenden Situation. »Ich musste auch lernen, dass ich meinen Instinkten nicht vertrauen kann. Ich muss realistisch bleiben. Und deshalb werde ich mich jetzt über die Bücher setzen.«
»Oh Eden, mach mal ’ne Pause!«
»Leider musste ich bereits Pause von den Büchern machen – beim Ausbruch der Giftefeu-Epidemie, beim Blitzeinschlag, beim defekten Herd und bei den Tierarztbesuchen.« Sie hängte sich bei Candy ein und ging zusammen mit ihr zur Stalltür. »Du hast recht gehabt: Es hilft, sich auszusprechen. Trotzdem habe ich noch Pflichten.«
»Budgetplanungen.«
»Richtig. Ich will mich wirklich daranmachen. Und es hat den Vorteil, dass ich mir das Hirn zermartern kann, bis ich wirklich so müde bin, dass das Feldbett mir weich wie eine Wolke vorkommt.«
Candy schob das Tor auf. »Ich helfe dir.«
»Vielen Dank, aber ich würde gern noch vor Weihnachten fertig sein.«
»Autsch! Das war gemein, Eden.«
»Aber wahr.« Eden verriegelte die Tür hinter ihnen. »Mach dir keine Sorgen um mich, Candy. Unser Gespräch hat meine Gedanken ein bisschen geklärt.«
»Wenn du den Worten jetzt Taten folgen lassen würdest, wäre es noch besser. Aber es ist immerhin ein Anfang. Arbeite nicht zu lange.«
»Ein oder zwei Stunden, mehr nicht«, versicherte Eden.
Das Büro, wie Eden es ganz bewusst hochtrabend nannte, war eine winzige Kammer neben der Küche. Sie schaltete die Bogenleuchte auf dem metallenen Schreibtisch ein, den sie in einem Army-Fundus aufgetan hatte, und klappte den Laptop auf. Eigentlich konnte sie auch noch das kleine Transistorradio auf dem Regal einschalten. Die vertrauten leisen Klänge würden sie beruhigen.
Klassische Musik scholl leise durch den Raum, als Eden sich mit einem tiefen Atemzug an den Schreibtisch setzte. Hier, das wusste sie nur zu gut, war alles schwarz und weiß. Hier gab es keine Alternative, kein »Vielleicht«, keine Ausnahme von den Regeln, so wie in den anderen Bereichen des Alltags im Camp. Zahlen blieben Zahlen, und Tatsachen waren nun mal Tatsachen. Ihr oblag es, die Zahlen zusammenzuzählen.
Eden zog die Schublade auf und entnahm ihr Rechnungen, das Scheck- und das Haushaltsbuch. Systematisch sortierte sie, schrieb nieder, tippte Zahlen ein, während die weiße Rechnungsrolle aus der Addiermaschine quoll.
Nach zwanzig Minuten kannte sie die erschreckende Wahrheit. Die zusätzlichen Ausgaben der letzten beiden Wochen hatten das vorhandene Kapital bis an seine Grenzen geführt. Ganz gleich, auf welche Weise Eden die Zahlen auch verbuchte, unterm Strich kam immer dasselbe heraus. Zwar waren sie noch nicht komplett bankrott, aber sie standen gefährlich nahe davor. Frustriert massierte sie sich mit Zeigefinger und Daumen die Nasenwurzel.
Sie konnten es noch immer schaffen, sagte sie sich. Edens Hand lag auf den Papieren, so als könnte sie damit das Resultat ausblenden. Sie konnten es schaffen, wenn auch haarscharf. Wenn keine unerwarteten Kosten mehr auf sie zukamen. Und wenn Candy und sie den ganzen Winter über sehr sparsam lebten. Eden stellte sich vor, wie sich die Anmeldungen für die nächste Saison auf dem Schreibtisch stapelten. Wenn das tatsächlich eintraf, waren sie aus dem Gröbsten raus.
Sie klammerte die Finger fest um die Papiere und atmete tief aus. Sollte eines dieser Wenn nicht eintreffen, hatte sie immer noch ihren Schmuck, den sie versetzen konnte.
Das Licht der Lampe fiel auf den Opalring an ihrem Finger. Hastig sah Eden weg. Sie fühlte sich schon bei dem Gedanken an einen Verkauf des Rings schuldig. Aber sie würde es tun, wenn sie musste. Wenn ihr keine andere Wahl mehr blieb. Denn was auf gar keinen Fall für sie infrage kam, war aufgeben.
Die Tränen kamen so plötzlich, dass sie auf die Papiere fielen, bevor Eden den Kopf abwenden konnte. Sie wischte sie weg, doch es kamen immer mehr. Niemand sah sie, niemand konnte sie hören. Eden versuchte nicht länger, sie zurückzuhalten. Sie legte den Kopf auf den Stapel Unterlagen und ließ ihnen freien Lauf.
Tränen änderten nichts. Tränen brachten weder brillante Ideen, noch lösten sie Probleme. Eden hielt sie dennoch nicht zurück. Ihre Energie war schlicht und einfach aufgebraucht.
So fand er sie: zusammengesunken über einem ordentlich sortierten Stapel Papier und lautlos weinend. Zuerst blieb Chase stumm stehen, die Tür an seinem Rücken nur angelehnt. Sie sah so hilflos aus, so völlig verausgabt. Er wollte zu ihr eilen, doch er hielt sich zurück. Diese Tränen waren privat,
Weitere Kostenlose Bücher