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Versuchung

Versuchung

Titel: Versuchung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliane Maibach
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weiter.
      „Kommen Sie und
versuchen Sie eine Geistreise!“, forderte mich eine große dürre Frau auf. Sie
wirkte ziemlich abgemagert, ihre schmalen Lippen verzogen sich zu einem
Lächeln, wobei sich die pergamentartige Haut noch fester über die Wangenknochen
spannte.
      „Na, hast du
Lust?“, fragte mich Marid. „Das macht echt Spaß. Wer weiß, vielleicht sind
deine Kräfte mächtig genug, dass du tatsächlich etwas siehst.“
      Ich verstand nicht,
was er meinte. Auf meinen fragenden Gesichtsausdruck hin begann er mit einer
Erklärung.   
      „Wenn du genug innere
Stärke besitzt, kannst du auf diese Art in die Erinnerungen von anderen reisen
und sie miterleben. Es soll eine wirklich tolle Erfahrung sein. Bei mir hat es
leider nie funktioniert, aber vielleicht hast du ja mehr Glück.“
      Eine Reise in fremde
Erinnerungen?
      „Das klingt eigentlich
ganz interessant. Ich probier es gern aus. Mal sehen, ob es klappt.“
      Während Marid
bezahlte, setzte ich mich auf einen schweren Sessel, den mir die Frau zuvor
zugewiesen hatte, und wartete aufgeregt ab, was nun als Nächstes geschehen
würde. Im Hintergrund hörte ich die Glocken einer Turmuhr schlagen.
      „Blicken Sie
einfach hier in den Spiegel“, erklärte die Händlerin. Sie hielt mir einen
wunderschönen Handspiegel hin, dessen Oberfläche perlmuttfarben schimmerte. Ich
betrachtete die klare, glatte Fläche und bemerkte, wie sie sich langsam wölbte
und verformte. Nicht lange und ich konnte einzelne Finger erkennen, die zu
einer Hand verschmolzen. Diese kam auf mich zu, packte mich blitzschnell und
zog an mir. Etwas schien sich aus mir zu lösen. War es mein Bewusstsein? Meine
Seele?
    Ich schnappte vor
Panik nach Luft, als ich meinen Körper hinter mir sitzen sah und mein Geist in den
Spiegel hineingezogen wurde. Ich versuchte, mich zu wehren, wollte zurück, doch
ich war machtlos. Plötzlich wurde alles pechschwarz um mich herum. Eisige Kälte
ließ mich frösteln und ich fand mich auf einem harten, rauen Boden wieder. Vorsichtig
tastete ich mit den Händen umher und krabbelte auf allen vieren, bis ich auf
einmal Schritte hörte.
      „So einen Besuch
hatte ich ja noch nie“, hörte ich eine fremde Stimme sagen. Sie klang männlich
und so, als käme sie aus weiter Ferne.
      „Hab keine Angst,
Divina. Es ist mir ein besonderes Vergnügen, dich willkommen heißen zu dürfen.
Dank deiner Fähigkeiten stehen uns alle Möglichkeiten der Geistreise offen.“
      Der Fremde trat auf
mich zu. Ich sah ihn zwar nicht, doch ich spürte seine Nähe.
      „Ich werde am
besten eine Gestalt annehmen, bei der du dich sicherer fühlst“, sagte er, woraufhin
ich ein Schnippen vernahm und augenblicklich alles um mich herum in grelles Licht
getaucht wurde.
      Dieser schnelle
Wechsel zwischen völliger Dunkelheit und strahlender Helligkeit schmerzte in
meinen Augen, weshalb ich sie erschrocken zusammenkniff. Doch allmählich
gewöhnte ich mich daran und öffnete sie vorsichtig. Vor mir stand nun ein kleiner
Junge. Aufgrund seines Aussehens schätzte ich ihn auf etwa zwölf Jahre, doch in
seinen Augen lag eine Weisheit, die von einem hohen Alter sprach. Er kam mir
vertraut vor und schnell wurde mir klar, wen ich da vor mir hatte. Es war Devil
oder zumindest sein Äußeres. An seinen Bewegungen, der Mimik und den Gesten erkannte
ich allerdings, dass es sich hierbei niemals um den Echten handeln konnte.
      Zu meiner
Überraschung wirkte er durchscheinend, als hätte sein Körper keine feste
Gestalt. Ich betrachtete meine Hände und den Rest von mir. Auch ich schien keine
feste Form mehr zu haben.
      „Wer bist du?“,
fragte ich und stand langsam auf.
      „Mein Name ist
Alron. Ich bin so etwas wie dein Reiseführer durch die Erinnerungen. Es ist mir
eine Freude, dich leiten zu dürfen. Wollen wir beginnen?“
      Ich sah ihn
überrascht an und zögerte zunächst. Am liebsten wäre ich von hier verschwunden,
doch irgendetwas hielt mich fest. Vielleicht war es Neugier, möglicherweise
Voraussicht. Mir wurde jedenfalls bewusst, dass ich unbedingt hierbleiben
musste.
      „Ich sehe die
vielen Fragen, die dich beschäftigen, und kann dir helfen, die eine oder andere
Antwort zu finden.“   
      Erneut schnippte er
mit den Fingern und eine große, hölzerne Tür erschien vor uns.
      „Bereit?“
      Ich nickte zögernd.
Die Tür öffnete sich und helles Tageslicht strahlte uns aus einem Fenster
entgegen, weshalb ich einige Schritte zurücktrat.

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