Versunkene Gräber - Roman
abgestellt hatte. »Ich werde Frau Hoffmann von Ihnen grüßen, sollte ich sie finden.«
»Warum suchen Sie nach ihr?«
Die polnische Anwältin zuckte mit den Schultern und schlängelte sich geschickt durch die engen Tischreihen Richtung Ausgang. Wenn der eine oder andere Blick an ihr hängenblieb, dann bemerkte sie es nicht. Ich folgte ihr. Draußen auf der Schlüterstraße holte ich sie ein. Kurz war ich versucht, sie an der Schulter zu packen und zu mir umzudrehen. Die Sorge um Marie-Luise und das schlechte Gewissen, das ich zwei Jahre lang mit »Sie könnte sich ja ruhig auch mal melden« betäubt hatte, machten mich wütend.
»Jetzt warten Sie doch! Zuzanna!«
Abrupt blieb sie stehen.
»Das geht so nicht. Sie können hier nicht einfach auftauchen und mich ohne ein Wort im Unklaren lassen.«
Sie strich sich die Haare auf der linken Seite hinters Ohr. Mir fiel auf, wie schmal ihr Gesicht war. Zart geschnitten, mager beinahe, mit leicht nach innen gewölbten Wangen.
»Mein Mandant hat sich getäuscht. Sie sind nicht befreundet.«
»Wer zum Teufel ist Ihr Mandant?«
»Dazu möchte ich Ihnen nichts sagen.«
Sie hatte keinen Mantel dabei. Es war kalt. Wir hatten wieder einmal einen als Sommer getarnten Herbst in Berlin. Schwere graue Wolken bedeckten den Himmel, der frische Wind wehte uns einen unangenehmen, hauchfeinen Nieselregen frontal ins Gesicht.
»Sie tauchen hier auf, völlig aus dem Nichts, suchen eine alte Freundin von mir, wollen mir weismachen, ihre Kanzlei hätte sich in Luft aufgelöst, geben sich als Anwältin aus …«
»Ich bin Anwältin.«
»Und wollen mir nichts zum Sachverhalt sagen? Ich weiß noch nicht einmal, ob Sie zum Vor- oder Nachteil von Frau Hoffmann nach ihr suchen.«
»Das geht Sie …«
»Hat sie Mietschulden? Ist sie mit dem Gesetz in Konflikt geraten?«
»Nein!«
»Um was zum Teufel geht es dann?«
Sie trat einen Schritt auf mich zu. Damit stand sie so nah vor mir, dass ich erkennen konnte, wie sehr ich mich in ihrem Alter und ihrer Unerfahrenheit getäuscht hatte. Irgendetwas machte sie wütend. Wir konnten es nicht sein. Wir hatten ihr Hilfe und eine warme Mahlzeit angeboten.
»Also?«
»Es geht um Mord«, zischte sie. »Sagen Sie das Ihrer Freundin, wenn Sie sie wiedersehen. Je eher sie auftaucht, umso besser.«
»Um was?« Da glaubte ich noch, ich hätte mich verhört.
»Mord. Soll ich es buchstabieren? Do widzenia, bałwan. «
Sie drehte sich um und lief davon.
Marquardt hatte zwischenzeitlich bezahlt und kämpfte gerade auf den Stufen des Restaurants mit seinem Faltschirm. Gemeinsam machten wir uns auf den Weg ins Büro. Das Wetter unterband jede Konversation.
Die Kanzlei lag nur eine Querstraße entfernt – eine zweihundert Quadratmeter große Altbauwohnung mit Parkett, Stuck und jugendstilverglasten Schiebetüren. Der Marmor im Treppenhaus schimmerte, der rote Teppich auf den Treppenstufen wurde täglich gesaugt, der Fahrstuhl aus den zwanziger Jahren ruckelte gemächlich nach oben. Marquardt versuchte, mit seinem zusammengefalteten, nassen Schirm nicht allzu viel Unheil anzurichten.
»Wusstest du das?«
»Was?«, knurrte ich.
»Dass Mary-Lou untergetaucht ist?«
»Sie ist nicht untergetaucht. Wahrscheinlich sitzt sie in einem alten Reifenlager in Oberschöneweide.«
»Was soll sie denn in Oberschweineöde?«
»Dort sind die Mieten noch bezahlbar.«
Ich hatte mich kundig gemacht. Das musste ich Marquardt nicht unbedingt auf die Nase binden. Ich war sein Untermieter. Wer will schon für den Rest seines Lebens Untermieter bleiben?
»Jetzt habe ich ein wirklich schlechtes Gewissen.«
Ich unterdrückte ein Stöhnen. Marquardts eingebildete Anwandlungen von Mitgefühl verschwanden meist ebenso schnell, wie sie auftauchten. Aber sie nervten.
»Vielleicht hätte ich mich mal bei ihr melden sollen?«, sinnierte er weiter.
Das hätte ihr gefallen. Marquardt, der Ku’damm-Advokat. Ich erinnerte mich noch gut an die letzten gemeinsamen Wochen, die wir zu dritt verbracht hatten. Zum ersten Mal seit unserer Studienzeit wieder vereint. Das Haus in der Dunckerstraße war uns wegen einer Gasexplosion fast um die Ohren geflogen. Bis wir zurückkonnten, hatte Marquardt uns ein leeres Büro in seiner Kanzlei zur Verfügung gestellt – eine Geste, die er spätestens in dem Moment bereute, als Marie-Luise die Gattin eines schwerreichen Mandaten als ehemalige Klientin wiedererkannte, die sie gegen deren Zuhälter vertreten hatte. Marquardts immer noch
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