Versunkene Gräber - Roman
in einem Schließfach verwahrt hatte, bekam sie ihre Aktenmappe und den Korb mit einem Kilo Äpfeln, zwei Flaschen Wasser, einigen Röhrchen Multivitaminpräparaten und dem Wichtigsten, der aktuellen Fernsehzeitung, zurück. Ein Offizier begleitete sie in den Besprechungsraum, einen kargen, mit gelber Ölfarbe gestrichenen Saal. An der Wand und in der Mitte des Raumes standen einfache Holztische, eine Scheibe trennte Gefangene und Besucher, die sich gegenübersaßen. Vor einem großen Schild mit der Aufschrift STOPP musste sie warten, bis der Untersuchungsgefangene Jacek Zieliński hereingeführt wurde.
Zuzanna war nervös. Er war ein kräftiger, breitschultriger Mann mit verwegenem Gesicht und dunklen Locken, die ihm bis auf die Schultern fielen. Da er sein Hemd drei Knöpfe weit offen gelassen und die Ärmel hochgekrempelt hatte, konnte sie seine Tätowierungen erkennen. Was war ihr beim ersten Mal durch den Kopf geschossen, als sie ihn gesehen hatte? Hatte sie gespürt, dass sie einem Mann gegenübertrat, der sich für unbezwingbar, für unfehlbar, für unwiderstehlich hielt? Ein Wilder. Ein Jäger. Ein gesetzloser Pirat. Und nun – ein Mörder.
Er war unrasiert, aber nüchtern. Bei ihrem ersten Gespräch hatte sie noch den Eindruck gehabt, gar nicht richtig zu ihm durchdringen zu können. An diesem Tag jedoch bewegte er sich geschmeidig und schnell, und der Blick, mit dem er sie ansah, hatte etwas Herausforderndes.
Nachdem der zweite Wachoffizier ihm die Handschellen abgenommen hatte, setzte sich Jacek breitbeinig auf einen Stuhl und bot seiner Anwältin mit einer liebenswürdig übertriebenen Geste den Platz gegenüber an.
»Haben Sie sie gefunden?«
Sie übergab dem Offizier den Korb für ihren Mandanten und setzte sich. Um ihre Unsicherheit zu überspielen, holte sie, wie schon bei ihrer ersten Begegnung, die Akten aus ihrer Tasche und legte sie vor sich auf den Tisch. Dann zog sie ein Blatt Papier mit Namen und Anschriften heraus.
»Nein.«
Jaceks Lächeln verlor an Freundlichkeit. »Dann haben Sie nicht richtig gesucht.«
»Ich war überall. Ich habe mit jedem auf Ihrer Liste gesprochen. Niemand hat eine Ahnung, wo diese Frau geblieben ist.«
»Das kann nicht sein! Vernau muss es wissen.«
»Herr Vernau hat seit zwei Jahren keinen Kontakt mehr zu ihr.«
»Dann … Kevin.«
»Kevin auch nicht.«
»Und Hildegard? Frau Huth?«
»Die beiden Damen konnten sich kaum noch an Sie erinnern. Nur daran, dass Sie ihnen beim Umzug die Couch ruiniert haben.«
Sein Mund zuckte. Nüchtern war er ja noch unerträglicher. Er nahm nichts ernst. Weder ihre Bemühungen noch seine Situation. Das würde sich ändern. Spätestens wenn der Haftrichter die Ergebnisse der rechtsmedizinischen Untersuchung auf dem Tisch hatte und aus dem begründeten Anfangsverdacht ein Tatvorwurf wurde. Sie hatte die Fotos des Opfers gesehen. Jacek Zieliński gehörte zu jenen Männern, denen sie nicht im Dunkeln begegnen wollte. Das Gefährliche an ihm war seine Anziehungskraft – und dass er sich ihrer bewusst war. Mehr als über das tatsächliche Ausmaß seiner katastrophalen Lage.
»Sie suchen ein Phantom, Herr Zieliński. Und Sie brauchen mir nicht zu sagen, warum. Ich kann es mir denken.«
Jacek schwieg. Irgendwo in seinem Mundwinkel nistete immer noch dieses verdammte Lächeln.
»Marie-Luise Hoffmann ist Anwältin. Haben Sie geglaubt, ich finde das nicht heraus? Ich vertrete Sie. Deutsche Anwälte sind in Polen nicht zugelassen. Wenn Sie Zweifel an meiner Kompetenz haben, dann sagen Sie es mir bitte ins Gesicht.«
Gelangweilt starrte er auf seine Hände. Sie waren breit. Arbeiterhände. Totschlägerhände?
Mit einem Seufzen holte sie den restlichen Stapel der Unterlagen heraus. »Können Sie sich inzwischen an die Tatnacht erinnern?«
Jacek schüttelte den Kopf. Dabei fiel ihm eine seiner Locken über die Augen. Mit einer unwilligen Bewegung strich er sie zurück. »Ich hab’s schon mal gesagt, ich hatte einen Filmriss.«
»In den nächsten Tagen werden auch wir Einsicht in das rechtsmedizinische Gutachten erhalten. Es wird den Vorwurf eines Tötungsdeliktes erhärten. Herr Zieliński, wenn Sie kein Vertrauen in mich haben, dann sagen Sie es jetzt. Wir ersparen uns beide viele Unannehmlichkeiten. Sie können einen anderen Pflichtverteidiger verlangen. Ob der allerdings für zweihundert Zloty nach Berlin fährt, um mit all Ihren ehemaligen Kneipenbekanntschaften zu reden, möchte ich bezweifeln.«
»Danke«, rang er
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