Versunkene Staedte
Häusern niemand begegnen würde. Nacht für Nacht hatte sie in der Dunkelheit gelegen, die Soldaten beobachtet und auf eine Gelegenheit gewartet, sich an ihnen vorbeizuschleichen. Damals hatte sie noch zwei Hände gehabt.
Und jetzt kehrte sie in die Stadt zurück.
Am zehnten Tag ihrer Rast kletterte Mahlia auf eine der groÃen überwucherten Betonbrücken und blickte in Richtung der versunkenen Städte.
Aus der Ferne sahen sie beinahe verlassen aus, wenn man nicht auf die Kriegsgeräusche achtete. Kam man aber näher heran, konnte man Einzelheiten ausmachen. Bäume, die aus Fenstern wuchsen wie Haare aus den Ohren eines alten Mannes. Die Ranken von Kletterpflanzen, die von Dächern herabhingen. Vögel, die in den oberen Stockwerken nisteten.
Mahlia versuchte sich vorzustellen, wie es dort früher ausgesehen hatte. In einem der Museen, die die Friedenswächter beschützt hatten, hatte sie einmal Bilder von der ehemaligen Stadt gesehen.
Ihre Mutter hatte sie in das Museum mitgenommen, weil sie hatte schauen wollen, für welche der alten Dinge sich ausländische Sammler interessieren könnten. Und Mahlia hatte die Fotos gesehen. Aber es war alles so surreal gewesen. Offene StraÃen, auf denen Autos fuhren. Keine Boote. Ein Fluss, der durch die Stadt führte, anstatt alles zu überschwemmen. Es war ein völlig anderer Ort. Beim Betrachten der Bilder hatte sie sich gefragt, wo die ganzen Autos eigentlich geblieben waren. Vielleicht ruhten sie ja alle auf dem Grund der Kanäle.
Das Museum war ihr ein wenig wie ein Friedhof vorgekommen. Man ging dorthin, um sich Tote anzusehen. Und die Ausstellungsstücke kamen nicht an das heran, was ihre Mutter in ihrem Lagerhaus aufbewahrte.
» Die Geschichte ist den Menschen wichtig « , sagte ihre Mutter. » Hier, schau dir das an. « Sie hielt ihr ein Stück Pergament hin. » Siehst du diese Namen? Das bedeutete Krieg. Dieses Stück Pergament hat den Lauf der Weltgeschichte verändert. « Sie legte es vorsichtig wieder zurück. » Manche Leute würden ein Vermögen dafür bezahlen, es in der Hand halten zu dürfen. «
Sie lächelte. » Die meisten Leute hier haben keine Ahnung von den Geschichten, die mit all diesen Gegenständen verbunden sind. Deshalb kennen sie auch nicht ihren wahren Wert. Für sie ist das nur ein Haufen Abfall « , sagte sie mit einer ausladenden Geste auf das Lagerhaus, das bis zur Decke mit den Sammlerstücken angefüllt war, die ihre Mutter angehäuft hatte.
Alte Flaggen. Gemälde. Die marmornen Köpfe der Statuen alter Männer, die enthauptet worden waren und irgendwie ihren Weg in den Laden von Mahlias Mutter gefunden hatten, wo die Sammler hingingen, um Geschichte zu kaufen.
Das kleine Geschäft, wo ihre Mutter sich mit potenziellen Käufern traf, befand sich in einer Ladenzeile an der Flussmündung. Wirklich erstaunlich war jedoch das Lagerhaus selbst. Es war im Inneren eines groÃen Gebäudes in der Nähe des Stadtzentrums versteckt. Es bestand aus mehreren Wohnungen, die Mahlias Mutter gekauft und dann zugemauert hatte, um ihr Lager vor neugierigen Blicken zu schützen. Ihre besten Kunden brachte sie hierher.
Als Mahlia noch klein gewesen war, hatte sie manchmal zusehen dürfen, wie Männer und Frauen die Gemälde begutachteten, die an den Wänden lehnten, die Statuen von Präsidenten und die Wandbilder, die von Regierungsgebäuden abgemeiÃelt und im Ganzen in das Lagerhaus transportiert worden waren.
So war ihre Mutter auch ihrem Vater begegnet.
Er war genauso von Geschichte fasziniert gewesen wie sie. Er hatte kleine silberne Tabaksdosen aus der Revolutionsära gekauft und Federkiele, mit denen berühmte Schriftstücke unterzeichnet worden waren. Handgeschriebene Briefe. Alles Mögliche. Er war immer wieder zurückgekehrt, bis Mahlias Mutter begriffen hatte, dass er nicht nur an den Antiquitäten interessiert war. Und so war Mahlia entstanden.
» Kennst du einen Weg in die Stadt? « , fragte Tool und unterbrach ihre Gedanken.
Mahlia zuckte zusammen. Trotz seiner GröÃe bewegte sich der Halbmensch nahezu lautlos. Es war ziemlich unheimlich, wenn er plötzlich neben einem auftauchte. » Klar « , sagte sie. » Ich kenne einen Weg. «
» Einen, auf dem wir unentdeckt bleiben? « , bohrte er nach.
» Wenn nicht, werden wir das sicher schnell herausfinden « , gab
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