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Verteidigung

Verteidigung

Titel: Verteidigung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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einen Satz hingekritzelt: Frau weiß nichts von den Karten.
    Wally schätzte den Wert des Nachlasses auf etwa fünfhunderttausend Dollar, und die zurzeit geltende Honorarordnung sah für den Anwalt, der Mr. Marinos Nachlass abwickelte, ein Honorar von ungefähr fünftausend Dollar vor. Sofern es keinen Streit um die Baseballkarten gab – Wally hoffte inständig, dass es doch zu einem kam –, würde die Abwicklung des Nachlasses langweilige Routine sein und etwa achtzehn Monate in Anspruch nehmen. Aber wenn sich die Erben in die Haare gerieten, konnte Wally das Ganze in die Länge ziehen und das Honorar verdreifachen. Er mochte Nachlassmandate nicht besonders, doch sie waren immer noch besser als Scheidungen oder Sorgerechtsprozesse. Sie brachten Geld in die Kasse und führten gelegentlich sogar zu weiteren Honoraren.
    Die Tatsache, dass Finley & Figg das Testament aufgesetzt hatte, bedeutete nicht automatisch, dass die Kanzlei auch die Nachlassabwicklung übernehmen würde. Das konnte jeder Anwalt tun, und Wally wusste aufgrund seiner umfangreichen Erfahrungen in den Abgründen der Mandantenwerbung, dass ganze Horden von Anwälten damit beschäftigt waren, Todesanzeigen zu lesen und Honorare auszurechnen. Es war die Mühe wert, Chester im Auge zu behalten und den Hinterbliebenen juristischen Beistand bei der Ordnung von dessen Angelegenheiten anzubieten. Und es würde sich mit Sicherheit lohnen, wenn er dazu bei Van Easel & Sons vorbeifuhr, einem von vielen Bestattungsinstituten, die auf seiner Runde lagen.
     
    Wally war wegen Alkohol am Steuer vorübergehend der Führerschein entzogen worden, und eigentlich hätte er erst in drei Monaten wieder fahren dürfen, was ihn jedoch nicht davon abhielt, es trotzdem zu tun. Aber er war vorsichtig und beschränkte sich auf die Straßen in der Nähe seiner Wohnung und der Kanzlei, wo er die Polizisten kannte. Wenn er zum Gericht im Stadtzentrum musste, nahm er den Bus oder die L.
    Van Easel & Sons lag einige Häuserblocks außerhalb des Bereichs, in dem er sich sicher fühlte, doch er beschloss, das Risiko einzugehen. Wenn man ihn erwischte, würde er sich schon herausreden können. Für den Fall, dass die Polizei sich nicht erweichen ließ, kannte er die Richter. Er hielt sich so oft wie möglich auf Seitenstraßen und vermied es, in dichtem Verkehr zu fahren.
    Mr. Van Easel und seine drei Söhne waren vor Jahren gestorben, und da ihr Beerdigungsinstitut von einem Besitzer an den nächsten weitergereicht wurde, war nicht nur das Geschäft zurückgegangen, sondern auch die »einfühlsame und zuvorkommende Betreuung«, mit der immer noch Werbung gemacht wurde. Wally parkte hinter dem Gebäude und marschierte durch den Eingang, als wäre er hier, um einem Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen. Es war kurz vor zehn Uhr an einem Mittwochmorgen, und für ein paar Sekunden war er ganz allein in der Empfangshalle. Er blieb stehen und warf einen Blick auf den Aufbahrungsplan. Chester lag zwei Türen weiter auf der rechten Seite, im zweiten der drei Aufbahrungsräume. Zur Linken befand sich eine kleine Kapelle.
    Ein Mann mit teigiger Gesichtsfarbe, braunen Zähnen und einem schwarzen Anzug kam auf ihn zu und sagte: »Guten Morgen. Kann ich Ihnen helfen?«
    »Guten Morgen, Mr. Grayber«, sagte Wally.
    »Oh, Sie schon wieder …«
    »Es ist mir wie immer ein Vergnügen.« Obwohl Wally Mr. Grayber schon einmal die Hand gegeben hatte, machte er keine Anstalten, es wieder zu tun. Er war sich nicht ganz sicher, aber er vermutete, dass der Mann einer der Leichenwäscher war. Sein schlaffer, kühler Händedruck hatte sich ihm ins Gedächtnis gebrannt. Auch Mr. Grayber behielt seine Hände bei sich. Beiden Männern war der Beruf des anderen zuwider.
    »Mr. Marino war einer unserer Mandanten«, sagte Wally mit gedämpfter Stimme.
    »Seine Aufbahrung findet erst heute Abend statt«, erwiderte Grayber.
    »Ja, das habe ich gesehen. Aber ich muss heute Nachmittag geschäftlich verreisen.«
    »Also gut.« Grayber machte eine vage Geste in Richtung der Aufbahrungsräume.
    »Sie wissen nicht zufällig, ob schon ein anderer Anwalt hier gewesen ist?«, fragte Wally.
    Grayber schnaubte und verdrehte die Augen. »Woher soll ich das wissen? Ich kann mir die vielen Anwälte ja gar nicht mehr merken. Letzte Woche hatten wir hier einen Trauergottesdienst für einen illegalen Mexikaner, der von einer Planierraupe überrollt wurde.« Er nickte in Richtung Kapellentür. »Es waren mehr Anwälte als

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