Verteidigung
davon ausging, gleich darüber in Kenntnis gesetzt zu werden, dass der alte Chester auf raffinierte Art und Weise ermordet worden sei.
So leise, dass es beinahe ein Flüstern war, fragte Lyle: »Haben Sie schon mal was von einem Medikament namens Krayoxx gehört?«
In dem Einkaufszentrum neben dem Bestattungsinstitut gab es einen McDonald’s. Wally holte zwei Tassen Kaffee, dann setzten sie sich so weit wie möglich vom Verkaufstresen entfernt in eine Nische. Lyle hatte einen Stapel Papier dabei – Artikel aus dem Internet, die er ausgedruckt hatte –, und es war klar, dass er jemanden zum Reden brauchte. Seit dem Tod seines Vaters vor achtundvierzig Stunden war er geradezu besessen von Krayoxx.
Das Medikament war seit sechs Jahren auf dem Markt und verkaufte sich sehr gut. In den meisten Fällen senkte es den Cholesterinspiegel von stark übergewichtigen Menschen. Chesters Gewicht war langsam auf knapp einhundertvierzig Kilo gestiegen, wodurch sich auch andere Werte erhöht hatten – unter anderem Blutdruck und Cholesterinspiegel, um nur das Nächstliegende zu nennen. Lyle hatte seinem Vater Vorhaltungen wegen dessen Gewicht gemacht, doch Chester hatte es einfach nicht lassen können, nachts Eiscreme zu essen. Seine Art, mit dem Stress der hässlichen Scheidung umzugehen, bestand darin, im Dunkeln zu sitzen und eine Packung Ben & Jerry’s nach der anderen auszulöffeln. Nachdem er derart zugenommen hatte, schaffte er es nicht mehr, abzunehmen. Vor einem Jahr hatte ihm sein Arzt Krayoxx verschrieben, woraufhin sein Cholesterinspiegel drastisch gesunken war. Allerdings fing Chester an, Herzrhythmusstörungen und Kurzatmigkeit zu entwickeln. Er beklagte sich bei seinem Arzt darüber, doch dieser versicherte ihm, es sei alles in Ordnung. Der gesunkene Cholesterinspiegel sei wichtiger als diese geringfügigen Nebenwirkungen.
Krayoxx wurde von Varrick hergestellt, einem Unternehmen aus New Jersey, zurzeit die Nummer drei der weltweit zehn größten Pharmagesellschaften, mit einem Jahresumsatz von etwa fünfundzwanzig Milliarden Dollar und einer von zahllosen hässlichen Auseinandersetzungen mit staatlichen Regulierungsbehörden und Schadenersatzklagen geprägten Firmengeschichte.
»Varrick verdient mit Krayoxx sechs Milliarden im Jahr«, sagte Lyle, während er seine Recherchen durchsah, die alle aus dem Internet stammten. »Mit einer jährlichen Steigerung von zehn Prozent.«
Wally vergaß seinen Kaffee, als er einen der Berichte überflog. Er hörte dem jungen Mann schweigend zu, doch dabei schossen ihm so viele Gedanken durch den Kopf, dass ihm fast schwindlig wurde.
»Und das hier ist das Beste.« Lyle zog ein weiteres Blatt Papier aus seinem Stapel. »Kennen Sie die Kanzlei Zell & Potter?«
Wally hatte noch nie etwas von Krayoxx gehört. Angesichts seines Körpergewichts von einhundertzehn Kilo und eines leicht erhöhten Cholesterinspiegels wunderte er sich allerdings, dass sein Arzt das Medikament ihm gegenüber noch nie erwähnt hatte. Auch Zell & Potter war ihm unbekannt, doch er ahnte, dass es wichtige Akteure in einer großen Sache waren, und wollte seine Ahnungslosigkeit nicht zugeben. »Ich glaube, ja.« Er runzelte die Stirn und tat so, als würde er angestrengt nachdenken.
»Eine große Kanzlei in Fort Lauderdale.«
»Richtig.«
»Zell & Potter hat letzte Woche in Florida Klage gegen Varrick eingereicht – eine Zivilklage mit dem Vorwurf der widerrechtlichen Tötung durch Krayoxx in mehreren Fällen. Das ist der Artikel, der im Miami Herald dazu erschienen ist.«
Während Wally den Artikel überflog, verdoppelte sich seine Herzfrequenz.
»Sie haben sicher schon davon gehört«, sagte Lyle.
Wally war immer wieder erstaunt darüber, wie naiv der Durchschnittsbürger doch war. In den Vereinigten Staaten wurden jedes Jahr über zwei Millionen Klagen eingereicht, und der arme Lyle dachte tatsächlich, Wally wäre aufgefallen, dass jemand in Südflorida ein Verfahren angestrengt hatte. »Ja, auf diese Klage haben wir ein Auge«, erwiderte er.
»Übernimmt Ihre Kanzlei Fälle wie diese?«, fragte Lyle in aller Unschuld.
»Darauf sind wir spezialisiert«, sagte Wally. »Mit Personenschäden und Todesfällen haben wir angefangen. Ich habe kein Problem damit, es mit Varrick aufzunehmen.«
»Wirklich? Haben Sie die Firma schon einmal verklagt?«
»Nein, aber wir haben so ziemlich alle großen Pharmafirmen vor Gericht gebracht.«
»Das ist ja großartig. Dann wären Sie also bereit, den Fall
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