Vertrau deinem Herzen
zu tun hatte, Probleme hatte. Sie ließ ihren Blick über das bunte Bücherregal gleiten auf der Suche nach etwas Kurzem, Leichtem, was ihn nicht überfordern würde. „Du hast aber auch eine Auswahl hier“, murmelte sie.
„Die gehören nicht mir. Die gehören zum Haus.“
Alles hier gehört zum Haus, dachte Callie. Sie würde es niemals zugeben, aber manchmal tat sie so, als gehörte sie auch hierher. Als wäre sie Teil einer Familie, die Quilts und Fotoalben von einer Generation an die nächste vererbte und Traditionen aufrechterhielt, die jeden glücklich machten und mit einbezogen. Es war eine wenig überzeugende Fantasie, aber manchmal konnte sie nicht anders, als sich zu fragen, wie es wohl wäre, wenn.
Im Bücherregal stand alles, von Peter Pan über Nancy Drew bis Harry Potter, aber sie wollte nicht, dass er sich mit einem Roman abquälen musste. „Das hier“, sagte sie und nahm ein glänzendes Bilderbuch heraus. „Die kleine rote Henne.“ Auf dem Umschlag war ein dickes, glücklich aussehendes Huhn zu sehen, das wie eine Hausfrau in Schürze und Kopftuch gekleidet war.
„Du machst wohl Witze! Das ist ein Kinderbuch.“
„Dann sind wir umso schneller durch. Oder würdest du mir lieber etwas Längeres vorlesen?“ Sie hielt ihm den „Harry Potter“-Schinken hin.
„Nee, vergiss es.“ Er schob ihren Arm weg und nahm „Die kleine rote Henne“ in die Hand.
„Das ist eine dumme Geschichte“, meinte er.
„Warum lässt du mich das nicht beurteilen?“
Er sah sie aus großen Augen an. „Du kennst es nicht?“
„Nein.“ Als Kind hatte sie keines der üblichen Kinderbücher vorgelesen bekommen, weil Bruder Timothy fand, dass sprechende Tiere und andere Geschichten über erfüllte Träume anstößig waren. Mit Pädophilie hatte er kein Problem, aber die kleine rote Henne fand er abartig. „Fang an“, sagte Callie. „Ich bin schon ganz gespannt.“
„Okay“, gab Aaron sich mit leidender Stimme geschlagen. Er rutschte in eine halb sitzende Position im Bett und fing an vorzulesen. Die Geschichte stellte sich als gute Wahl heraus, denn sie benutzte sehr einfache Wörter und Sätze, die sich wiederholten.
„Wer will mir helfen“, fragte die kleine rote Henne jeden, den sie traf.
Und die Antwort war immer die gleiche: „Ich nicht, ich nicht, ich nicht.“
Callie konnte das sehr gut nachvollziehen. Als die Kommune schlussendlich aufgeflogen war, hatten die Sozialarbeiter versucht, sie bei Verwandten unterzubringen. Aber ein Blick auf Callie – übergewichtig, mit schlechter Haut und noch schlechterem Benehmen –, und sie sagten „Ich nicht“. Bis sie schließlich in der ersten Pflegefamilie landete.
Sie dachte an Kate und was für ein unerwartetes Geschenk sie war. Wie ein Engel. Nur ein paar Fragen, und dann hatte Kate sie hier wohnen lassen. Hatte sie erst wie einen Gast und dann wie einen Freund oder vielleicht sogar wie eine Nichte oder so behandelt. Kate war die erste Person, die Callie kannte, die sich weigerte, „Ich nicht“ zu sagen. Ganz im Gegenteil: Sie sagte „Ich will helfen“, und sie meinte es auch so.
Callie versuchte, es ihr zu vergelten, indem sie ein guter Gast war, aber es ließ sich nicht leugnen, dass sie eine dicke, fette Mogelpackung war.
Sie merkte, wie sie sich unwillkürlich anspannte, als die kleine rote Henne gezwungen war, alles alleine zu machen: den Weizen schneiden, dreschen – was auch immer das war –, zu Mehl mahlen, Teig machen, Brot backen. Es war Arbeit, Arbeit, Arbeit, den ganzen Tag, und ihre Loser-Freunde rührten nicht einen Finger – oder Huf –, um ihr zu helfen.
Und als wenn sie nicht schon genug zu tun hätte, musste die kleine rote Henne auch noch Eier ausbrüten. Sie bekam sechs Babys, und, welch Überraschung, es war kein Hahn in der Nähe, um ihr zu helfen, die hungrigen Mäulchen zu stopfen.
Die Henne ließ sich jedoch nicht entmutigen. Sie machte weiter, buk Brot, brütete Eier aus, stellte sich der Welt mit kühnem Trotz. Callie war erleichtert, als das Brot sich als perfekt herausstellte. Von seinem Duft angezogen, kamen alle Tiere der Farm zusammengelaufen und wollten unbedingt ein Stück probieren.
Was für ein süßer Triumph für die kleine rote Henne, als sie alle Tiere wegschickte und sie in deutlichen Worten wissen ließ, dass sie ihr Brot mit niemandem teilen würde, der nicht bereit gewesen war, ihr bei der vorherigen Arbeit zu helfen. Da stand sie nun, die alleinerziehende Mutter, die alle Arbeit alleine
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