Vertraute Schatten
in diesem muffigen kleinen Kellerloch, einem versteckten Laden, den laut Yvaine nur die fanatischsten Sammler von … wie auch immer man diese Dinge nennen wollte … kannten, hatte Arianes Stimmung deutlich gehoben. Er hatte festgestellt, dass sie in gewisser Weise genauso ruhelos war wie er.
Und dennoch fragte er sich, was sie wohl von ihm wollte. Es gab immer einen Haken, immer eine Bedingung. Jeder, das war seine Erfahrung, wollte etwas. Jeder hatte seinen Preis. Aber sie tat so, als wolle sie nichts.
Ein Rätsel. Eins, das ihm umso mehr zu denken gab, je mehr Zeit er mit ihr verbrachte.
»Hier, schau mal.« Ariane deutete auf eine vom Alter schon etwas brüchig gewordene Seite und eine Illustration. »So etwas habe ich noch nie gesehen, nicht mal in den Büchereien der Grigori. Aber … er sieht aus wie wir.«
Mit gerunzelter Stirn blickte Damien auf die Zeichnung eines mächtigen geflügelten Wesens hinunter, das wahrhaftig wie ein Grigori aussah, allerdings noch ausgefallener. Die Flügel waren geschwärzt, und das Wesen hatte, auch wenn sein Gesicht nur in Ansätzen gezeichnet war, deutlich mehr scharfe Zähne als der Durchschnittsvampir. Jeder Finger endete in einer Klaue. Unter der Zeichnung stand eine kurze Beschreibung.
Der Dämon Chaos, tief gefallen,
Seelenfresser, fluchbeladener Engel,
Er schläft in Ketten,
Doch wenn er erwacht, beginnt die Auferstehung,
Und die Eroberung der Welt der Nacht
Damien sah zu Ariane hoch, die noch immer fasziniert auf das Bild starrte.
»Glaubst du wirklich, das ist es, wovon Oren gesprochen hat? Ein angeketteter, Seelen fressender Dämon?«
Ariane zuckte mit den Schultern. »Vielleicht. Diese ›Eroberung der Welt‹ klingt wie etwas, das man gern verhindern würde, nicht wahr? So wie Oren darüber geredet hat, konnte man den Eindruck bekommen, als wäre es irgendwie seine Aufgabe gewesen, diese Auferstehung zu verhindern. Außerdem hat er erwähnt, dass es meine Seele wäre, die die Auferstehung aufhalten könnte.«
Damien gab ein leises, schnalzendes Geräusch von sich. »Blaublute, die sich einen gefesselten Dämon halten und ihn mit Seelen füttern … Einem Großteil von ihnen würde ich das zutrauen. Aber, Kätzchen, meinst du nicht, dir wäre da was aufgefallen in den letzten –«
»Neunhundert Jahren.« Sie wandte den Blick ab. »Und nein, nicht unbedingt. Du glaubst gar nicht, wie verschwiegen die Ältesten sein können, wenn man etwas nicht mitbekommen soll.«
Damien starrte sie einen Moment sprachlos an. »Du bist neunhundert Jahre alt?« Er hatte sie jünger geschätzt, um einiges jünger.
Eine leichte Röte überzog ihre Wangen. »In etwa. An die Zeit vor meiner Verwandlung kann ich mich so gut wie gar nicht erinnern. Es hat … eine Weile gedauert, bis ich mich daran gewöhnt hatte. Aber das spielt keine Rolle.«
Das stimmt, dachte Damien. Allerdings überraschte es ihn, dass man sie derart lange völlig abgeschottet hatte. Und sie hatte sich so viel Unschuld bewahrt, während er schon lange vor seiner Verwandlung hoffnungslos verdorben gewesen war. Vielleicht wäre es anders gewesen, wenn auch er damals alles hätte vergessen und ganz von vorn anfangen können.
Andererseits hatte er da so seine Zweifel. Dass Ariane keine Erinnerungen mehr hatte, deutete auf einen sehr traumatischen Übergang hin. Er betrachtete sie genauer, und allmählich begriff er, welche Stärke sich hinter dem engelsgleichen Gesicht verbarg. Neulinge, deren Vampirdasein so gewalttätig begann, dass alle Erinnerungen an den Übergang ausgelöscht wurden, verloren häufig den Verstand. Ihr war das nicht passiert.
In seiner Welt hatte es kaum etwas gegeben, das ihm Respekt abgenötigt hatte … bis jetzt.
Leicht aus der Fassung gebracht, richtete Damien seine Aufmerksamkeit wieder auf das Buch und betrachtete das Bild, das von Minute zu Minute widerwärtiger wirkte.
»Einerseits würde ich ja sagen, dass mir ein riesiger geflügelter Dämon, der bei irgendjemandem im Keller liegt und mit Seelen gefüttert wird, reichlich weit hergeholt vorkommt – auch wenn wir selbst ebenfalls ziemlich seltsame Wesen sind. Aber andererseits …«
»Andererseits«, griff Ariane den Faden auf, »ist das hier das erste Mal, dass diese Auferstehung überhaupt irgendwo erwähnt wird. Und du musst zugeben, irgendwie hat dieses Ding auf dem Bild … eine gewisse Ähnlichkeit. Die Zeichnung ist nicht sehr genau, aber meinst du nicht auch, es wäre möglich?«
Eine Zeitlang vertieften sie
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