Verwechseljahre: Roman (German Edition)
standen, koste es, was es wolle.
Gefängnis. Wenn er freiwillig ins Gefängnis ging? Oder in eine geschlossene Anstalt?
»Es muss doch noch eine andere Lösung geben!«, sagte ich verzweifelt. Konzentriert kniff ich die Augen zusammen und presste die Fäuste gegen die Schläfen. »Ach, Junge!«, sagte ich. Wie hätte Mutter jetzt gesagt? »Was man sich eingebrockt hat, muss man auch auslöffeln.« Aber so viele Löffel gab es auf der ganzen Welt nicht, das musste auch meine Mutter im Himmel einsehen. Ich schickte ihr ein Stoßgebet. Los, Mutter. Gib Stichwort!
In dem Moment klingelte das Telefon.
Es war Viktor. Sofort machte mein Herz einen zaghaften Hopser. Silke stellte auf laut. Seine Haushälterin habe ihm gerade die Zeitung gebracht. Zusammen mit dem Frühstück und dem Tee. Mein Herz polterte irgendeine Rolltreppe hinunter und verlor diesmal wirklich das Gleichgewicht. Sie war seine Haushälterin! (Es gibt doch einen Gott.) Mit knallroten Flecken im Gesicht lauschte ich Viktors tiefer, markanter Stimme.
Sie habe gerade errötend zugegeben, dass sie mich auf dem Bild erkannt habe. Sie habe gedacht, ich wolle mich für den Posten als Haushälterin bewerben. Deshalb habe sie ihm meinen Namen, meine Grüße und meine Kekse nicht übermittelt. Doch nun sei es ihr wie Perlen aus der Kette gefallen, dass wir ja quasi eine Familie seien und dass sie mich sehr wohl hätte hereinbitten müssen, mitsamt dem Enkelkind, das ja bitterlich geweint habe. Er habe sehr mit ihr geschimpft, denn über meinen Besuch hätte er sich wahnsinnig gefreut. Mit höchstem Erstaunen entnehme er diesem Boulevardblatt, dass ich offensichtlich schon länger in Hamburg sei!
Der Stein, der mir vom Herzen fiel und laut polternd durch mehrere Unterführungen kullerte, war bestimmt bis nach Bruns büttel zu hören.
Er hätte sich gefreut!
Sie war seine Haushälterin!
Und er fragte, ob es uns etwas ausmache, wenn er den Heiligen Abend bei uns verbringe. Er selbst habe nämlich gar keinen Baum und werde die Haushälterin entlassen. Er wolle sich nicht aufdrängen, habe aber das starke Bedürfnis, Weihnachten mit uns unter einem Baum zu sitzen und vielleicht in aller Ruhe mal ein klärendes Gespräch zu führen. Im engsten Familienkreis.
Mein Herz begann, unrhythmisch zu hopsen. Roman und ich tauschten einen vielsagenden Blick. Täuschte ich mich, oder zuckten seine Mundwinkel?
Ich räusperte mich und näherte mich dem Hörer.
»Wenn das jetzt nicht jedes Jahr vorkommt«, sagte ich großmütig, »meinetwegen gern.« Dann legte ich auf.
Silke sah erschrocken zwischen Roman und mir hin und her. »Aber …«
»Insiderwitz«, sagte ich und legte meine Hand auf ihren Arm.
Es war das erste Mal, dass Roman wieder grinste.
36
D er Heilige Abend war wunderschön. Ein richtiges Familienfest. Silkes Eltern, Beate und ihr Mann Hermann, kamen auch, und wir saßen eng, aber gemütlich mit den Kindern am Tisch.
Vorher hatten Roman und ich noch den Baum geschmückt und Geschenke verpackt. Und auf einmal war alles so zwischen uns, wie es sein sollte.
»Hier, was ist das?«
»Ach, die Holzeisenbahn für Max.«
»Und das hier?«
»Das ist der Struwwelpeter, die Kinder lieben ihn!«
»Ich habe schon gemerkt, dass sie ihn inzwischen auswendig können!«
»Ja, und wenn sie jetzt die Bilder dazu sehen … Ich bin so gespannt auf ihre Gesichter!«
Ich machte eine dicke rote Schleife um das Buch. »Hier. Halt mal den Daumen drauf.«
»Au, nicht so fest!«
In der Küche hörten wir Silke rumoren. Wir hatten ein tolles Essen gezaubert. Das Nachtisch-Dekorieren überließ ich ihr gern. Hermann und Beate waren noch mit den Großen in der Kinderchristmette, während Bennilein uns unfairerweise beim Geschenkeverpacken zugucken durfte. Er würde uns bestimmt nicht verraten.
Außer »Räh!« sagte er nichts weiter, und beim Anblick des funkelnden Christbaumes strampelte er begeistert mit den Beinen.
Ja, und dann wurde es Abend.
Mein Herz klopfte wie verrückt, als Viktor an der Tür klingelte.
»Mach du ihm auf!«, rief Silke aus der Küche und brachte die Kinder auf Französisch dazu, in ihren Zimmern zu bleiben.
Es war einer der schönsten Momente meines Lebens, als ich Viktor die Tür öffnete.
Unsere Tür. Die Familientür.
Als ich seine Augen sah in diesem starken, männlichen Ge sicht, das für Fremde oft so undurchschaubar war, zog sich mein Herz sehnsüchtig zusammen. Sie strahlten mich freundlich an, und seine Lippen verzogen sich zu einem
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