Verwechseljahre: Roman (German Edition)
gewesen! Im Übrigen sei ich anscheinend leicht zu haben. Warum da ausgerechnet der junge Vikar verantwortlich sein solle, der ja bekanntlich keusch lebe?! Ein Mädchen, das sich in den Ferien so benehme, habe in diesem Sommer doch sicherlich noch andere Männer verführt?! Da sich Alessandro Bigotti jedoch zu den guten und wohltätigen Menschen zähle, sei er beziehungsweise seine Eltern bereit, einen Abbruch zu finanzieren. Dies sei ausdrücklich keine Anerkennung der Vaterschaft, sondern ein Akt reiner Nächstenliebe. Ich solle mir mein weiteres Leben doch nicht verbauen. Im Anhang fand ich eine Adresse in Holland mit der Bemerkung, man habe dort bereits gute Erfahrungen bei solchen Zwischenfällen gemacht. Man sei dort diskret und verschwiegen.
Inzwischen war ich weit über den sechsten Monat. Das wusste Alessandro Bigotti. Das wussten seine Eltern, und das wusste auch der Anwalt. (Ich ging davon aus, dass sie bis sechs zählen konnten.)
Ich war fassungslos. Noch immer spürte ich eine Mordswut, als ich Rainer davon erzählte. Der geriet auch richtig in Rage:
»Diese Heuchler, dich so im Stich zu lassen!« Auf den Schreck hin musste er gleich noch ein Bier kippen, wobei er nicht vergaß zu erwähnen, er müsse seinen großen Flüssigkeitsverlust ausgleichen. Schließlich sei er achtzehn Kilometer geradelt. »Also, ich werde dich nie im Stich lassen, Schnuckelmaus!«
»Ich weiß«, murmelte ich schwach.
»Ich bin übrigens schon lange aus der Kirche ausgetreten«, sagte Rainer selbstgefällig, um mir seine Solidarität zu bekunden, wobei ihm ein kleiner Rülpser entfuhr.
»Glaubst du nicht an Gott?«
»Nein. Ich bin bekennender Atheist.«
Das klang ganz schön stolz.
»Besser gesagt Agnostiker.« (Meines Wissens nach ist ein Agnostiker jemand, der nicht weiß, ob es Gott gibt oder nicht, und der sein ganzes Leben lang darüber nachdenkt. Beispielsweise beim Seeumrunden mit dem Fahrrad und beim Schwänefüttern.)
»Ich glaube immer noch an Gott«, erwiderte ich, »aber nicht mehr so kompromisslos wie früher an die Kirche. Trotzdem hat sie sich damals bestmöglich um uns gekümmert, und sowohl Mutter als auch Oliver sind noch am Leben. Nicht alle waren so verlogen wie die Bigottis.«
»Prost!«, sagte Rainer und hob sein Glas. »Auf Oliver. Und auf deine tolle Mutter.« Er trank einen großen Schluck, dann fiel ihm noch eine Steigerung ein: »Und auf Olivers rattenscharfe Supermutter!«
O Gott. Mir brach der Schweiß aus. Dagegen war die Schnuckelmaus ja noch harmlos gewesen! »Rattenscharfe Supermutter«, was erlaubte der sich? Hüstel. Nur weil wir einmal, vor langer Zeit … Nur weil ich ein paarmal so getan hatte, als ob … Nur weil ich ihn aus Mitleid glauben ließ, sein kleiner grüner Kaktus … Hollarihollarihollaho!
Nein, nicht aus Mitleid. Sondern weil ich naiverweise geglaubt hatte, dann sei es schneller vorbei. (Wie blöd kann man nur sein, Carin! Du siehst ja, wohin das geführt hat.)
Ich fuhr mir mit beiden Händen über das erhitzte Gesicht. Nicht dran denken. Sex hatte in meinem Leben nur zu Katastro phen geführt. Ich griff zu meinem Bier. Heute war jede Art von Beruhigungsdroge erlaubt.
»Auf Oliver!« Ich schloss die Augen und stellte ihn mir vor. Schwarzhaarig, braunäugig. Sogar seine Stimme war dunkel. Ich hatte einen erwachsenen, erfolgreichen Sohn! Der Redakteur bei einem Verlag war und Familie hatte! »Ich bin schon fast dreifache Oma«, teilte ich Rainer mit. Vielleicht würde ihn das abschrecken.
»Auf dich, du rattenscharfe Schnugglmaussubaoma«, improvisierte Rainer, der Konsonanten nicht mehr ganz mächtig. Er war schon ziemlich betrunken.
Trotzdem erzählte ich weiter.
Mutter gesundete allmählich, während ich die letzten zwei Schwangerschaftsmonate in dem abgelegenen Entbindungsheim verbrachte. Der Ort hieß Mollseifen, das würde ich niemals vergessen. Die Schneereste auf den braunen kahlen Feldern sahen tatsächlich so aus wie Seifenlauge. Und Moll ist nun mal per se eine traurige Angelegenheit. Ich war nicht die Einzige, die dort diskret niederkam. Mädchen aus ganz Deutschland waren da, wir freundeten uns an und standen uns bei. Schwester Mathilde ermunterte uns, doch wie sie ins Kloster zu gehen. Dann wären wir fein raus! Einige dieser Mädchen nahmen die freundliche Einladung an, ich dagegen wollte mit meiner Mutter ein neues Leben beginnen. Schließlich war sie nicht gestorben. Das war doch ein Zeichen des Himmels, oder?
Mein Kind kam zur Welt. Es war
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