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Verwechseljahre: Roman (German Edition)

Verwechseljahre: Roman (German Edition)

Titel: Verwechseljahre: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
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genau. Nachdem mich der Chef gefeuert hatte, tätschelte er mir bedauernd die Wange, drückte mir eine Schachtel Pralinen in die Hand und schloss dann für immer die Tür. Es schneite, es war dunkel, ich fror, und wir hatten kaum was zu essen. Außer Pralinen.
    Das war der Tag, an dem ich plötzlich Alessandro Bigotti an der Strippe hatte. Der 18. Dezember 1983.
    Die Pralinen hatten meine Mutter und ich der Nachtschwester gegeben, damit wir im Schwesternzimmer in Ruhe telefonieren konnten. Mutter war nur noch die Hälfte ihrer selbst, während ich mich schon fast verdoppelt hatte. Ihr Gesicht drückte Entschlossenheit aus. Ich hielt den Hörer so, dass sie mithören konnte.
    Alessandro zischte panisch, ich habe ihm doch versprochen, ihn nie mehr zu kontaktieren!
    Ich sagte mit zitternder Stimme, dass sich die Umstände erheblich geändert hätten.
    Darauf er, er habe den weltlichen Dingen entsagt. Was ich da sage, könne gar nicht sein.
    Ich wiederholte mit bebender Stimme, dass ich bereits im fünften Monat sei!
    Mutter krächzte dazwischen, dass zu so etwas immer zwei gehörten! Denn das mit dem Heiligen Geist sei ihres Wissens nach vor zweitausend Jahren zum ersten und letzten Mal passiert! (Später erfuhr ich, dass auch Elisabeth, Marias Mutter, jungfräulich schwanger geworden war. Schätzungsweise auch vom Heiligen Geist. Vom wem auch sonst? Dieser kirchliche Feiertag ist am achten Dezember und heißt »Mariae unbefleckte Empfängnis«. Kein Schwein weiß, dass es sich um die GROSSMUTTER und nicht um die Mutter von Jesus handelt. Seit zweitausend Jahren haben an diesem hohen Feiertag Schulen und Banken geschlossen. Kein Witz!)
    Alessandro flüsterte, dass er riesigen Ärger bekomme, wenn sich so etwas in seinem Kloster herumspreche. Er sei gerade erst im Probejahr. Sein Abt würde ihm den Kopf abreißen und ihn gleich wieder rausschmeißen!
    Mutter rief in den Hörer, sie rate ihm, sich seiner Verantwortung zu stellen. Sonst werde ihm nicht nur der Kopf abgerissen, sondern auch noch ganz andere Dinge, die er sowieso nicht mehr brauchen werde. Dafür werde sie eigenhändig sorgen, bevor sie sterbe. Mutters Stimme zitterte vor Wut, und ich hatte Angst, dass sie sich viel zu sehr verausgabte.
    »Sie haben meine Tochter auf dem Gewissen, Herr Bigotti! Ein junges, unschuldiges Ding!«
    Alessandro wisperte, er könne jetzt leider nicht mehr weitersprechen, er werde sich aber melden, und legte auf.
    Mutter und ich saßen kreidebleich im Schwesternzimmer und starrten uns an. »Wetten, dass er sich meldet?«, flüsterte ich.
    »Wetten, dass er sich NICHT meldet?«, flüsterte Mutter. (Leider hatten wir nichts, worum wir wetten konnten.)
    Weihnachten saß ich bei meiner siechen Mutter im Sechsbettzimmer, hielt ihre Hand und spürte, wie sich das Kind in meinem Bauch bewegte. Ein Geistlicher kam mit zwei Messdienern und einem Weihrauchfässchen zum Beten und Stille-Nacht-Singen. Ich weiß noch, dass sich die Patientinnen lautstark dagegen wehrten. Ihnen wurde schlecht von dem Geruch. Sie waren alle auf Chemo.
    Mir war auch schlecht.
    Der Geistliche bemerkte meinen Zustand und steckte mir einen Zettel zu. Darauf stand die Adresse eines Entbindungsheims. Ganz diskret gelegen, an der Grenze zur Tschechoslowakei. Später nannte er den Namen Schwester Mathilde und sagte, bei ihr sei ich in den besten Händen. Die Kirche werde sich küm mern. Die Kirche werde zu ihrer Verantwortung stehen. Die Kirche werde kein noch so verirrtes Schäfchen im Stich lassen.
    Ich betete so viel wie noch nie in meinem Leben. Wer so katholisch aufgewachsen ist wie ich, kommt auf keine andere Idee. Ich versuchte, mit Gott zu handeln: Wenn ich jeden Morgen um sieben in die Messe gehe, wenn ich täglich zwölf Stunden an Mutters Bett wache, wenn ich mich auch noch um andere Kranke kümmere, wenn ich meinem Heißhunger auf Süßes widerstehe – hilfst du mir dann? Wenn ich gelobe, niemals zu heiraten? Auf meine Weise den Zölibat zu leben? Ich betete um ein Wunder.
    Meine vielen Gebete zeigten Wirkung. Zu meiner Überraschung geschahen gleich zwei Wunder: Mutter starb in diesem Jahr NICHT . Und Alessandro Bigotti meldete sich DOCH . Und zwar mit einem Schreiben, das der Anwalt seiner Eltern verfasst hatte. In diesem Schreiben wurde noch einmal seine Vaterschaft angezweifelt. In unserem damaligen »Aufenthaltsraum« könne doch gar kein Geschlechtsakt vollzogen worden sein. Man sei ja nie allein gewesen, es seien doch ständig sechzig Kinder dabei

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