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Verwechseljahre: Roman (German Edition)

Verwechseljahre: Roman (German Edition)

Titel: Verwechseljahre: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
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achtgeben, Rainer.«
    »Klar«, sagte er großzügig. »Mach ich. Ich pass auf sie auf!«
    Und während wir so über die Autobahn nach München fuhren und ich hinter Rainer auf dem Rücksitz saß und seinen frisch rasierten Nacken betrachtete, nahm ich mir ganz fest vor, ihm wirklich noch eine Chance zu geben. Er war beim Friseur gewesen. Er hatte in letzter Zeit langärmlige Hemden an. Er hatte abgenommen. Mit welcher Hingabe und Fürsorge er sich um mich und Mutter kümmerte! Immer war er zur Stelle, wenn ich ihn brauchte! Ohne ihn hätte ich mich vielleicht gar nicht getraut, dem Arzt Paroli zu bieten!
    Und tatsächlich machte uns der Schwager seiner Exfrau in München Mut: »Wenn Sie jeden zweiten Tag zum Verbandwechseln kommen, könnte es klappen. Es gibt da ein neues Mittel, das die Zellerneuerung unterstützt. Die Haut könnte sich regenerieren, wenn Sie Ihrer Mutter Bewegung verschaffen. Haben Sie Zeit, sich darum zu kümmern, Frau Bergmann?«
    »Natürlich!«, beeilte ich mich zu sagen. Schon wieder gelogen. Plötzlich wurde mir angst und bange. Wie sollte ich bei meinem Fulltimejob in der Bibliothek jeden zweiten Tag nach München fahren? Wie täglich stundenlang mit ihr Laufübungen machen? Ich würde kündigen müssen, aber dann säßen Mutter und ich wieder auf der Straße. Dieselbe Panik wie damals vor dreißig Jahren beschlich mich.
    »Carin ist berufstätig, aber ich werde mich um die alte Dame kümmern. Ich gehöre ja schließlich zur Familie, nicht wahr?« Rainer tätschelte meiner Mutter die Hand, und diese weinte vor Dankbarkeit und beteuerte, dass Rainer quasi ihr Lieblings- Schwiegersohn sei. (Na toll. Danke, liebes Schicksal.)
    Der Schwager freute sich, man plauderte noch über Dagmar und Kyril, die jetzt in Frankfurt lebten. Mutter zeigte sich sehr interessiert, und Rainer drückte mir bei einer passenden Gelegenheit diskret einen grün beschrifteten Zettel in die Hand. Ich zog mich ebenso diskret auf die Damentoilette zurück, um einmal heulend gegen den Klodeckel zu treten.
    »Liebe kann wachsen, Liebe kann wachsen, Liebe kann wachsen!«, beschwor ich lauthals mein Spiegelbild. Dann kramte ich meine Lesebrille aus der Handtasche.
    Die Liebe zu dir
    ist kein flüchtiger Funke,
    sie ist eine beständige Glut.
    Auf der Rückfahrt schlief Mutter. Die Erleichterung, aber auch die Erschöpfung standen ihr ins Gesicht geschrieben. Ich betrachtete gerührt ihr Profil, und ein großes Schuldbewusstsein überfiel mich. Doch als mich Rainers triumphierender Blick streifte, gefror mir das Blut in den Adern. Ich setzte eine trotzige Miene auf. Ich war ihm ausgeliefert. Auf Gedeih und Verderb. Andererseits: Was erwartete ich denn noch vom Leben? Welcher Traummann sollte in unserer Kleinstadt denn noch vom Himmel fallen? Wie naiv war ich eigentlich? Ich würde eine einsame, alte, wunderliche Jungfer werden. Rainer wäre das Beste für uns alle. Und wenn sich mein Sohn bald melden würde, könnte ich ihm Rainer als Lebenspartner vorstellen. Dann wäre ihm die Angst genommen, ich könnte fortan »jedes Weihnachten bei ihm unterm Baum sitzen wollen«, wie sein Adoptivvater sich so schön ausgedrückt hatte. Auf diese Weise könnte ich ihm beweisen, dass ich nicht bedürftig oder einsam war, und er würde vielleicht einen viel lockereren, ungezwungeneren Zugang zu mir bekommen.
    Ich sah Roman schon mit Rainer Elektrofahrrad fahren und danach Bier trinken. Und dabei ein Gespräch »von Mann zu Mann« führen. »Nehmen Sie Carin so, wie sie ist. Sie ist im Grunde ein feiner Kerl. Im Moment ist sie nur ein bisschen launisch, aber das sind die Wechseljahre.«
    Alles sprach für Rainer. Meine Mutter. Mein Sohn. Dann wären wir eine vollständige Familie. Roman würde uns mit nach Hamburg nehmen, und ich könnte meine Enkelkinder kennenlernen.
    O Gott, die würden uns beim Anblick von Rainers fliederfarbener Rentnerweste die Tür vor der Nase zuschlagen! Anderer seits konnte ich ihm ja vorher ein paar tragbare Klamotten besorgen. Okay, alles noch mal auf Anfang. Ich ließ die Szene noch einmal Revue passieren, diesmal trug er Anzug und Krawatte. Schon besser. Selbst der arrogante Reeder würde sich von mir nicht belästigt fühlen. Das wäre perfekt. Ich nahm mir vor, Rainer zu lieben. Vielleicht erst nur ein kleines bisschen, und dann würde es schon mehr werden. Ganz bestimmt. Ich würde ihm erst die kleine Zehe reichen und dann den ganzen Fuß. Es musste einfach funktionieren.

12
    M anni ging inzwischen in der

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