Verwesung
von uns hatte sich bemüht, Kontakt zu halten. Warum wollte sie mich also nach all dieser Zeit unbedingt treffen?
Mein Kaffee war kalt geworden. Als ich auf meine Uhr schaute, sah ich, dass es schon fast halb zwei war. Seltsam, dachte ich, so wie sie am Telefon geklungen hatte, hätte ich niemals gedacht, dass sie zu spät kommen würde. Andererseits war ich mir nicht sicher, wie weit sie fahren musste, und sie konnte ja aufgehalten worden sein. Ich nahm die Speisekarte und blätterte sie unruhig durch, wobei ich alle paar Minuten zum Eingang schaute.
Ich wartete noch eine Viertelstunde, ehe ich Sophie auf dem Handy anrief. Immerhin hatte ich Empfang, worauf man sich hier draußen im Moor nicht verlassen konnte. Ich lauschte dem Klicken der Verbindung und hörte dann ihre Stimme: «Hallo, Sophie ist nicht zu Hause. Nachrichten nach dem Beep.»
Ich bat sie, mich anzurufen, und legte auf. Vielleicht hat sich einer von uns in der Zeit getäuscht, sagte ich mir.
Doch auch nach zwei Uhr war sie noch nicht da. Selbstwenn sie aufgehalten worden war, hätte ich doch mittlerweile etwas von ihr hören müssen. Oder kam sie vielleicht mit dem Zug? Ich hatte angenommen, dass sie mit dem Wagen fuhr, aber ich hatte sie nicht gefragt. Ich schob meinen kalten Kaffee zur Seite und ging zur Theke. «Können Sie mir sagen, wann der nächste Zug ankommt?»
Die Wirtin schaute auf die Uhr hinter der Theke. «In den nächsten zwei Stunden kommt keiner.» Sie lächelte mich freundlich an. «Hat sich wohl verspätet, was?»
Ich lächelte höflich und ging zurück zu meinem Tisch. Doch es war sinnlos, noch länger zu warten. Ich nahm meine Jacke und ging hinaus.
Die Sonne war hinter einer hohen Wolkendecke verschwunden und erzeugte ein diffuses, schillerndes Licht, als ich die hundert Meter zum Bahnhof ging. Er war zu klein für einen Ticketschalter und bestand im Grunde nur aus zwei nicht überdachten Bahnsteigen, die durch eine kurze Brücke verbunden waren. Beide Bahnsteige waren leer, an einer Anschlagtafel hing jedoch ein Fahrplan. Die Wirtin hatte recht: In den nächsten paar Stunden kam kein Zug an. Die einzige andere Verbindung war der Zug, den ich gesehen hatte, als ich angekommen war, und in dem war Sophie offensichtlich nicht gewesen.
Wo war sie also?
Am Himmel kreiste eine Krähe, ansonsten war es vollkommen still. Ich stand am Rand des Bahnsteigs und starrte auf die Gleise. Abgesehen von der Oberkante, waren sie verrostet, ein Beweis dafür, wie selten hier Züge entlangfuhren. Sie verliefen schnurstracks geradeaus und bogen erst kurz vor dem Horizont aus dem Blickfeld ab.
Und jetzt?
Ich hatte keine Ahnung. Ich war mir nicht einmal sicher, was ich hier überhaupt tat. Ich war über dreihundert Kilometer gefahren, um eine Frau zu treffen, die ich seit Jahren nicht gesehen hatte, und war zum Dank versetzt worden. Doch obwohl ich mir einzureden versuchte, dass es eine einfache Erklärung dafür gab, konnte ich es nicht ganz glauben. Sophie hatte verzweifelt geklungen und wollte mich unbedingt treffen. Wenn sie gewusst hätte, dass sie sich verspäten würde, hätte sie mich angerufen.
Irgendetwas stimmte nicht.
Ich ging zurück zu meinem Wagen und nahm den Straßenatlas aus dem Kofferraum. Ich hatte zwar ein Navi, aber auf einer Landkarte mit einem großen Maßstab konnte ich mich besser orientieren. Sophie hatte gesagt, dass sie in einem kleinen Dorf namens Padbury wohnte, das laut Karte ein paar Kilometer entfernt lag. Ihre Adresse hatte ich nicht, aber das Dorf konnte nicht so groß sein. Ich würde mich einfach durchfragen, bis ich jemanden gefunden hatte, der sie kannte.
Es war besser, als nichts zu tun.
Der Weg nach Padbury war gut ausgeschildert, doch jedes Schild schien mich weiter vom Leben und von der Zivilisation wegzuführen. Die Straßen wurden immer enger, bis ich mich auf einem schmalen, einspurigen Weg wiederfand, neben dem sich, nur noch mit vereinzelten welken Blättern behangen, eintöniges Brombeergestrüpp auftürmte. Bei Schnee oder Eis war der Ort bestimmt von der Außenwelt abgeschnitten, und als ich erneut runterschaltete, um eine unübersichtliche Kurve zu nehmen, fragte ich mich, was Sophie nur hierhergeführt hatte.
Aber ich konnte mir kein Urteil erlauben, hatte ich dochschließlich selbst schon einmal eine ähnliche Entscheidung getroffen.
Nach ein paar weiteren Kilometern säumten statt der Hecken eng aneinanderstehende gestutzte Eichen die Straße. Sie ließen nichts von dem
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