Verwuenscht und zugenaeht
nicht mal, wo man so viel Kaugummi herbekommt.«
Das ist allerdings ein Argument. Und nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, glaube ich ihm fast.
Fast.
»Wie auch immer, ich gehe jetzt zur Schule. Und wenn ich wiederkomme, ist das ganze Chaos hier besser verschwunden. Ich erwarte, dass du dich darum kümmerst.«
Er hebt die Arme. »Ich fasse hier gar nichts an. Ich brauche doch keine Beschäftigungstherapie.«
»In diesem Fall muss ich Mum wohl leider erzählen, dass du gewisse Magazine unter deinem â¦Â«
»Okay, okay, hab schon verstanden«, fällt er mir ins Wort und winkt hektisch ab, als hätte Mum das Haus verwanzt.
Mit einem triumphierenden Gefühl und einem Grinsen im Gesicht wende ich mich zum Gehen. Zu Fuà brauche ich etwa zwanzig Minuten zur Schule. Der Unterricht beginnt in zehn.
Normalerweise laufe ich diesen Weg gern, besonders, wenn das Wetter so schön ist wie heute. Ich brauche nicht mal eine Jacke, der Kapuzenpulli reicht völlig aus. Die Kirschbäume am StraÃenrand sind schon fast kahl und die Blätter rascheln unter meinen FüÃen.
Doch heute bin ich mit den Gedanken ganz woanders. Ich werde das unangenehme Gefühl nicht los, dass irgendetwas Merkwürdiges vor sich geht. Mein Bruder hat kein Wort über das rosa Pony verloren. Und wäre er tatsächlich für das Kaugummichaos in meinem Zimmer verantwortlich, hätte er dann nicht vor meiner Tür gehockt und auf meine Reaktion gewartet? Irgendetwas stimmt hier nicht.
N ach Schulschluss möchte ich am liebsten gar nicht nach Hause gehen. Wer betritt schon gern freiwillig ein Katastrophengebiet? Ich will auf keinen Fall aufkreuzen, bevor mein Bruder die Kaugummikugeln beseitigt hat. Nicht dass er noch auf die Idee kommt, ich würde ihm helfen. Ich habe schon immer die Strategie verfolgt, unangenehmen Situationen aus dem Weg zu gehen. Warum sollte ich jetzt damit aufhören?
Ich entscheide mich also spontan dafür, zu Bens Motocrossrennen zu gehen. Es ist keine groÃe Veranstaltung, aber nah genug, dass ich in einer halben Stunde dort sein kann. Wenn ich ihn auf seinem Motorrad sehe, kann ich an nichts anderes mehr denken. Und genau diese Ablenkung brauche ich jetzt.
Am Freitag habe ich meine Fahrprüfung. Mit etwas Glück muss ich heute zum letzten Mal zu Fuà zur Rennstrecke laufen. Vor allem, wenn ich den alten Ford Ranger meines Bruders benutzen darf. Den Spaziergang heute sollte ich also in vollen Zügen genieÃen.
Das Rennen findet auf einem abgesperrten Privatgelände statt. Dort gibt es steile Abfahrten, hohe Erdwälle, Rampen und andere Hindernisse, über die kein vernünftiger Mensch fahren würde. Ben überwindet sie auf seinem Motorrad jedoch mit Leichtigkeit. Am Rand stehen ein paar Tribünen mit etwa zehn Sitzreihen, auf denen höchstens hundert Zuschauer Platz finden. Heute wird es aber nicht besonders voll werden. Mittwochs finden die wöchentlichen Schaurennen statt, bei denen die Fahrer ohne hohe Startgebühren oder Wettkampfdruck trainieren können.
Das Herbstwetter zeigt sich auch heute Nachmittag von seiner schönsten Seite und ich kaufe mir an einer Tankstelle eine Limo. In meinem Rucksack steckt noch eine Tupperdose, die bis zum Rand mit Nicoles Schoko-Minz-Brownies gefüllt ist. Sie hat Wort gehalten und als Wiedergutmachung eine ganze Ladung nur für mich gebacken.
Während ich an der LandstraÃe entlanglaufe und an einem leckeren Brownie knabbere, bin ich zum ersten Mal seit Tagen wieder richtig entspannt. Ich genieÃe den Anblick der Rohrkolben, die an den StraÃengräben wachsen. Dahinter erstrecken sich groÃe Wiesen, auf denen Pferde und Kühe grasen. Die Sonne scheint vielleicht zum letzten Mal in diesem Herbst so warm und hell. Die groÃen, orangefarbenen Blätter der Ahornbäume liegen in einer so dicken Schicht auf dem Boden, dass ich fast knöcheltief darin versinke.
Genau das habe ich gebraucht â einen Nachmittag, an dem ich alles hinter mir lassen kann und mich um nichts sorgen muss.
Neben der Rennstrecke dient eine Wiese als Parkplatz und ich bahne mir einen Weg durch die abgestellten Fahrzeuge. Es sind eindeutig mehr Pick-ups als Pkws, denn in Enumclaw prägen geländetaugliche Wagen das StraÃenbild. Nicht dass ich was dagegen hätte.
Ich laufe auf die klapprigen Holztribünen zu, schlängle mich durch eine Gruppe Schaulustiger und finde
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