Verwuenscht und zugenaeht
hinüber.
Sie steht mit einer Zange in der Hand vor einer Wanne mit Entwicklerlösung und schiebt das Fotopapier durch die Flüssigkeit. Sie entwickelt eine ganze Rolle mit Fotos von Ben, die sie während des Abendessens gestern geknipst hat.
Ein paar davon habe ich gesehen. Sie sind nach dem Essen noch am Hafen spazieren gegangen. Sie hat ihn am Pier fotografiert, als nur noch ein schmaler Lichtstreifen am Horizont zu sehen war.
Sie muss wirklich das Zeitgefühl verloren haben, denn als die Sonne unterging, hätte sie längst bei mir im Garten sein sollen. Stattdessen war sie noch mindestens eine Stunde mit ihm unterwegs, ohne sich dessen bewusst zu sein.
Irgendwie bin ich doch noch sauer auf sie. Ich hätte ihr das nie angetan. Aber auch andere Gefühle toben in mir: Sorge, Betroffenheit und Traurigkeit.
In den letzten zwei Jahren hat sich vieles verändert. Wir sind an einem Punkt, an dem wir uns entweder noch näher kommen oder voneinander entfernen. Und ich ahne schon, in welche Richtung sich die Dinge entwickeln werden.
Nicole hat bisher wirklich bedauernswert ausgesehen. Für mich hatte es nie eine Rolle gespielt, dass ihr Gesicht mit Pickeln übersät war, sie mindestens zehn Kilo Ãbergewicht mit sich herumschleppte und ungewöhnlich klein war.
Inzwischen hat sie jedoch ein mehr oder weniger wirksames Mittel gegen die Akne gefunden, und in den letzten Monaten ist sie mindestens zwanzig Zentimeter gewachsen. Da sie nicht weiter zugenommen hat, ist sie jetzt schlank, obwohl sie immer noch etwas mehr auf den Hüften hat als ich. Und sie hat sich die Haare wachsen lassen.
Sie ist zwar immer noch ein wenig schüchtern, aber auch das scheint sich zu bessern. Wahrscheinlich hat sie längst bemerkt, dass sie kein Freak mehr ist. Jetzt dauert es nicht mehr lange, bis ihr klar wird, dass man das von mir nicht gerade behaupten kann. Und dann wird sie mich abservieren.
Das beste Beispiel ist der gestrige Abend. Während ihre Beziehung zu Ben immer intensiver wird, löst sich unsere Freundschaft langsam auf.
Ich beuge mich über das VergröÃerungsgerät und versuche mich auf meine Arbeit zu konzentrieren. Ich richte das Negativ aus, damit das Bild später nicht unscharf wird oder am Rand etwas fehlt. Jetzt befasse ich mich schon tagelang mit diesem Projekt und hätte längst weiter sein müssen.
Nicole braucht sich darüber offensichtlich keine Sorgen zu machen.
Mr Edwards hat uns die Aufgabe gegeben, ein Selbstporträt anzufertigen â ohne uns dabei selbst zu fotografieren. Das Foto soll eher eine »charakteristische Seite« von uns zeigen, unsere Persönlichkeit darstellen. Und wir sollen möglichst eine der kreativen Techniken anwenden, die wir im Kurs gelernt haben, wie beispielsweise ein Negativ umzukehren oder die Bildschärfe zu verändern.
Ich habe den Fotokurs eigentlich nur gewählt, weil ich ihn mir weniger anstrengend vorgestellt habe als die Garten- AG oder die Theatergruppe â und erst recht den Chor. Leider lag ich damit völlig daneben. Ich habe überhaupt kein Gespür für Motive.
Mr Edwards gibt mir ganz akzeptable Noten, weil ich wenigstens die technische Seite gut beherrsche. Trotzdem besteht er nach wie vor darauf, dass ich mein »inneres Auge« benutzen und »die Welt um mich herum genau betrachten« soll, bla, bla, bla. Und dann gibt er uns auch noch diese Aufgabe, die zur Hälfte unsere Note ausmachen wird und deren Schwerpunkt ausgerechnet auf Kreativität liegt. Autsch!
Das Schlimmste daran ist, dass er zu den wirklich netten Lehrern gehört. Er kümmert sich um seine Schüler und verbringt viel Zeit auÃerhalb des Unterrichts damit, ihnen zuzuhören und zu helfen.
Deshalb habe ich fast ein schlechtes Gewissen, weil ich ihm die ganze Zeit nur irgendwelche langweiligen Fotoarbeiten vorlege. Aber was soll ich sonst tun? Einige andere Kursteilnehmer sehen etwas, knipsen es und machen es zu einem Kunstobjekt. Ich bin in diesem Punkt einfach völlig unbegabt.
Mir bleiben nur noch zwei Wochen, um das Projekt abzuschlieÃen. Und alles, was ich vorweisen kann, ist ein groÃes überbelichtetes Nichts. Was soll ich denn auch fotografieren? Mein einsames Zimmer? Ein Telefon, das nie klingelt? Den Terminkalender meiner Mutter, der keine Zeit für mich vorsieht? Nicole von hinten, wie sie weggeht, oder schlimmer, wie sie mit Ben herumknutscht?
Nicole
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