Verwuenscht und zugenaeht
einen Sitzplatz, an dem die weiÃe Farbe noch nicht abgeblättert ist. Die rauen Winter hier im Nordwesten hinterlassen ihre Spuren, aber an einem sonnigen Herbsttag wie diesem möchte ich nirgendwo sonst leben.
Die Motocrossfahrer sind schon auf der Rennstrecke. Ein Typ springt auf einem orangefarbenen Zweitakter von einem hohen Erdwall und ein paar Fahrer, die mit Helmen auf dem Kopf am Rand des Hügels sitzen, johlen begeistert.
Ich erkenne Ben sofort an seinem leuchtend gelben Motorrad und dem blauen Helm. Er trägt ein schwarzes Trikot mit einem königsblauen Aufdruck. Startnummer neun, meine Lieblingszahl, seit ich zum ersten Mal mit Nicole hier war.
Nicole findet die Motocrossrennen langweilig, laut und dreckig. Ben macht es nichts aus, wenn sie nicht zusieht, weil er an einem Renntag sowieso keine Zeit für sie hat.
Ich kann gar nicht glauben, wie wenige Gemeinsamkeiten sie haben. Liebt sie ihn überhaupt so sehr wie ich? Und wenn, warum ist sie dann nicht hier?
Ich entdecke zwei Mitschüler in der ersten Reihe, aber sie drehen sich nicht zu mir um und würden sich schon gar nicht zu mir setzen. Nicole wird nie erfahren, dass ich hier war. Ich muss weder befürchten, dass sie hier auftaucht, noch dass Ben mich sieht, denn er trägt einen Helm und ist so mit seiner Maschine beschäftigt, dass er nichts um sich herum wahrnimmt.
Ben steigt auf sein Motorrad und startet es. Ein lautes Brummen ertönt. Er hat viel Arbeit in die Maschine gesteckt und die meisten Teile selbst montiert. Er erzählt mir in Mathe oft davon und inzwischen weià ich genauso viel über sein Motorrad wie er. Ob Nicole überhaupt eine Ahnung hat, dass er das ganze letzte Wochenende damit verbracht hat, eine verlängerte Radaufhängung anzubringen?
Das Muster seiner Stiefel passt farblich zu Trikot und Hose und er trägt eine Schutzbrille über dem Helm, sodass man sein Gesicht nicht sehen kann. Aber das spielt keine Rolle, denn ich weià genau, wie er unter seiner Motorradkluft aussieht.
Die ersten dreiÃig Meter legt er nur auf dem Hinterrad zurück, dann setzt er mit dem Vorderrad wieder auf, schaltet in den nächsten Gang und rast auf eine Böschung zu. Kurz vorher reiÃt er das Lenkrad herum und fährt in einer Kurve die Böschung hinauf, bis er fast auf der Seite liegt, und nur noch die Geschwindigkeit und die Zentripetalkraft verhindern, dass er in den Dreck fliegt. Wieder auf ebenem Boden, schaltet er in den dritten Gang und saust auf eine Reihe kleiner Bodenwellen zu.
Er springt von der ersten Erhebung ab, segelt über die nächsten beiden Wellen hinweg und schieÃt nach der Landung mit der Maschine weiter vorwärts. Jetzt liegt ein steiler Abhang vor ihm, in der nächsten Sekunde erreicht er bereits den Scheitelpunkt und das Motorrad fliegt durch die Luft. Ben schwingt das linke Bein über den Sitz und stellt sich auf die rechte Seite der Maschine. Kurz vor der Landung reiÃt er das Bein zurück und bleibt breitbeinig auf den FuÃrasten stehen. Erst als er auf dem Boden aufkommt, beugt er die durchgestreckten Beine.
Mein Herz rast. Ich kann es nicht fassen, dass er sich bei diesen waghalsigen Tricks nicht vor Angst in die Hose macht. Ob er mich jemals mit seinem Motorrad fahren lässt? Es muss sich unbeschreiblich anfühlen, für einige kostbare Sekunden wirklich schwerelos zu sein.
Er drosselt die Geschwindigkeit und biegt zum nächsten Teil der Strecke ab: drei hohe Hügel hintereinander. Er springt von einem zum anderen, segelt durch die Luft, landet wieder, fährt um die Hügel herum und startet erneut. Ab und zu baut er ein paar Tricks ein, verdreht den Lenker oder reiÃt die Arme in die Höhe.
Ich halte so lange den Atem an, bis meine Lunge förmlich nach Sauerstoff schreit. Wie kann Nicole das langweilig finden?
Ben schafft einen weiteren Absprung, lässt das Motorrad absichtlich zur Seite ausbrechen und zieht es kurz vor der Landung wieder gerade. Die Zuschauer grölen und applaudieren begeistert. Wie alle anderen springe ich auf, juble ihm aus voller Kehle zu, klatsche wie verrückt und pfeife.
Ben ist einer der besten Motocrossfahrer in unserer Gegend. Er möchte zwar noch nicht auf die richtig heftige Profibahn, aber er hätte auf jeden Fall das Zeug dazu. In unserer ersten gemeinsamen Mathestunde habe ich die vielen Aufkleber auf seiner Heftmappe gesehen und ihn danach gefragt. Er hat mir erzählt,
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