Verwuenscht und zugenaeht
hat Sommersprossen auf der Nase und so volle Lippen, dass sie unnatürlich wirken.
Sie scheint etwa in meinem Alter zu sein und sich nicht im Geringsten daran zu stören, dass sie in meinem Wandschrank eingeschlossen war.
Wenn das die Fernbeziehung meines Bruders ist, hat er einen grausamen Geschmack.
»Wer zum Teufel bist du?«, frage ich und weiche zurück, als stünde ein tollwütiger Hund vor mir. Ich bin von der absurden Angst erfüllt, dass das Mädchen jeden Moment aufspringen und sich auf mich stürzen könnte wie eine Springspinne oder so etwas Ãhnliches.
»Ann«, sagt sie mit zaghafter Stimme, die kaum lauter als ein Flüstern ist.
»Okay, Ann , was machst du in meinem Wandschrank?«
»Sitzen«, erwidert sie, als wäre das nicht offensichtlich. Sie zwinkert ein paar Mal und sieht mich seltsam an, als wäre ich hier fehl am Platz und nicht sie.
»Das sehe ich. Aber wieso sitzt du dort?«
»Ich bin deine beste Freundin. Ich wohne hier!«, antwortet sie. Ihre Stimme klingt schon fester und nicht mehr so leise. Sie spricht die Wörter merkwürdig betont aus, zwar ohne Akzent, aber irgendwie so, als hätte sie sie erst vor fünf Minuten gelernt.
»Das stimmt nicht«, sage ich und mache mitsamt dem Stuhl wieder einen Schritt nach vorn. Sie muss aus dem Schrank raus. Jetzt sofort. Was glaubt sie denn, wo wir hier sind, in Narnia?
»Doch, das stimmt.«
» Nein , das stimmt nicht.«
» Doch , das stimmt!«
Ich beiÃe die Zähne zusammen. Mann, ist die nervig. »Also gut. Und wer bist du?!«
»Ann«, sagt sie erneut.
»Und weiter?«
»Einfach nur Ann.«
» Einfach nur Ann gibt es nicht.«
Sie starrt mich an. Ich blinzle und hoffe, dass sie einfach wieder verschwindet. Seltsamerweise kommt sie mir mit einem Mal vertraut vor. Ich trete hinter dem Stuhl hervor, um sie genauer zu betrachten, richte aber zur Sicherheit immer noch das Lineal auf sie.
Wenn alle anderen Verteidigungsstrategien versagen, kann ich sie immer noch zu Tode messen.
»Kennen wir uns irgendwoher?« Meine Stimme klingt noch etwas ängstlich und ich räuspere mich.
Sie lacht kurz auf und das bringt mich endgültig auf die Palme. Was erlaubt die sich eigentlich? Erst dringt sie in mein Zimmer ein und dann lacht sie mich auch noch aus!
»Natürlich, Kayla. Wir kennen uns seit mehr als acht Jahren.«
Sie kennt meinen Namen. Mir dreht sich der Magen um. Ich verstehe das nicht. Soll ich einfach losrennen und meinen Bruder holen? Vielleicht ist sie eine Geisteskranke, die aus einer psychiatrischen Klinik geflohen ist. Vielleicht hat sie mich durchs Fenster beobachtet. Ich muss mir unbedingt neue Vorhänge zulegen.
»Verschwinde aus meinem Schrank«, sage ich mit zitternder Stimme. Vor sieben Uhr morgens bin ich noch nicht in der Lage, mit verrückten Eindringlingen fertigzuwerden.
»Es ist nicht meine Schuld, dass ich hier drin sitze. Du hast mich doch hier eingesperrt.«
Hä?
»Wieso hätte ich das tun sollen? Das ist doch absurd.«
Das Lineal in meiner Hand kommt mir immer winziger vor. Wieso habe ich keinen Zollstock?
»Ich bin seit fünf Jahren da drin«, sagt sie und zeigt auf eine weiÃe Schachtel ganz hinten im Schrank. »Und es ist bei Weitem nicht so gemütlich wie in deinem Bett.«
Ann krabbelt aus dem Schrank und streckt die Beine. Unbeholfen richtet sie sich auf, taumelt vorwärts und kracht gegen meinen Drehstuhl. Ich mache einen groÃen Satz zurück, während der Stuhl gegen die violette Trockenbauwand knallt und eine tiefe Delle hinterlässt.
Na groÃartig! Zum Glück arbeitet mein Bruder in einem Baumarkt.
Ann sucht an der Bettkante Halt und zieht sich hoch. Sie ist etwa so groà wie ich und klammert sich am Bettpfosten meines Himmelbetts fest. Sie wirkt sehr wacklig auf den Beinen, wie ein Fohlen, das gerade erst Laufen gelernt hat.
Ich nutze die Gelegenheit und mustere sie von oben bis unten. Plötzlich weià ich, warum sie mir so bekannt vorkommt! Das ganze Zimmer beginnt sich langsam um mich zu drehen und jetzt bin ich diejenige, die sich festhalten muss.
Sie sieht aus wie meine alte Raggedy-Ann-Puppe!
Hat sie deshalb die Schachtel erwähnt? Hat sie in meinen alten Sachen gewühlt und die Puppe gefunden?
Sie sieht grauenhaft aus. Ihre Klamotten passen vielleicht zu einer Puppe, aber nicht zu einem jungen Mädchen. Die wild
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