Verwuenscht und zugenaeht
streiche die Falten glatt. »Mein Dad ist nach Italien gezogen. Ich wollte ihn nicht einfach nur besuchen, sondern ihn dazu überreden, dass ich bei ihm bleiben darf. Ich dachte, wenn ich Italienisch kann, würde er es mir bestimmt erlauben.«
»Oh«, sagt sie leise, zum Glück jedoch ohne mich dabei mitleidig anzusehen. »Ich erinnere mich kaum noch an ihn.«
»Kein Wunder, er hat uns ja auch ein Jahr, nachdem ich dich geschenkt bekommen habe, verlassen.« Ich mache eine kurze Pause. »Entschuldige, das sollte jetzt nicht komisch klingen.«
Sie zuckt die Schultern. »Wie war er denn so? Und wie sah er aus?«
Ich starre auf meine Serviette und schnippe einen Fussel weg. »GroÃ, dunkles Haar, der typische Italiener eben. Und er hatte einen wunderbaren Akzent. Ich habe oft versucht ihn nachzuahmen, es aber nie richtig hinbekommen. Mein Bruder klingt manchmal wie er. Dad ist hochintelligent und sehr gebildet. Er liest gern. Oft ist er sogar im Arbeitszimmer mit einem Buch auf der Brust eingeschlafen. Manchmal hat er mir vorgelesen.«
»Warum hat er euch verlassen?«
Darauf habe ich keine Antwort. Ich zupfe an der Serviette herum, aber mir fällt beim besten Willen nichts ein. »Ich weià es nicht. In der einen Minute war er noch da und in der nächsten verschwunden. Er hat nicht einmal zurückgeschaut. Sein Verhalten ergibt für mich bis heute keinen Sinn. Er ist einfach gegangen und wollte uns nie wiedersehen.«
Ann erwidert nichts.
Nach einer Weile breche ich das Schweigen. »Ich glaube, keiner von uns hat jemals daran gedacht, die Lücke zu füllen. Es ist, als wären wir ein Tisch, an dem ein Bein abgesägt wurde, nur dass sich keiner von uns bewegt hat, um ihn gerade zu halten, verstehst du? Als würden wir darauf warten, dass er zurückkommt und sich alles wieder einrenkt. Wir reden auch nie über Dad. Mum verliert kein Wort über ihn und Chase erst recht nicht. Manchmal habe ich das Gefühl, ich bin die einzige Person in dieser Familie, die überhaupt noch an ihn denkt.«
Vor Betroffenheit bringe ich kein Wort mehr heraus und nehme einen groÃen Schluck Eiswasser. Die Kellnerin bringt uns Salat und Brot. Ann greift hungrig zu und ich bekomme ein schlechtes Gewissen. Sie ist seit fast zwei Tagen lebendig und ich habe ihr nicht einmal etwas zu essen gegeben. Ob sie ein paar Kaugummikugeln verdrückt hat, als sie im Schuppen hockte?
Andererseits hätte wahrscheinlich niemand daran gedacht, ihr etwas zu essen anzubieten. SchlieÃlich ist sie eine Puppe. Doch diese Puppe sitzt mir quicklebendig und laut schmatzend in einem italienischen Restaurant gegenüber und stopft sich so viel Essen in den Mund, dass sich ihre Wangen wie bei einem Hamster nach auÃen wölben. Als sie merkt, dass ich sie beobachte, erstarrt sie mit offenem Mund. Ein Stück Brot fällt fast heraus.
»Es ist unhöflich, so laut zu schmatzen«, erkläre ich ihr. »Und nimm besser deine Ellbogen vom Tisch.«
»Wo soll ich sie denn sonst lassen?«, fragt sie mit vollem Mund. Sie hebt die angewinkelten Arme und lässt sie wie die Flügel eines Huhns nach rechts und links abstehen.
»Beim Essen liegen nur die Unterarme auf dem Tisch. Wenn du nicht isst, legst du die Hände in den SchoÃ. Und man spricht nicht mit vollem Mund.«
Moment, bin ich jetzt etwa zur Anstandsdame mutiert?
Sie kaut enthusiastisch, und als sie alles heruntergeschluckt hat, sagt sie: »Danke!«
Als hätte ich ihr gerade angeboten, ihre Schuhe auf Hochglanz zu polieren.
Sie nimmt das Salatbesteck und häuft sich einen riesigen Berg Salat auf den Teller. »Warum hast du ihn nie angerufen?«
»Wen?«
»Deinen Dad.«
»Oh, äh, keine gute Idee.«
»Warum nicht?«
Ich stecke mir schnell ein Stück Brot in den Mund, um mir etwas Zeit zum Nachdenken zu verschaffen. Doch auch nachdem das Brot in meinen Magen gewandert ist, kann ich ihr keine gute Erklärung liefern. »Er hätte sich melden müssen, schlieÃlich hat er uns verlassen.«
»Ja, aber â¦Â«
Aus dem Augenwinkel nehme ich eine Bewegung wahr und beuge mich leicht zurück, um besser sehen zu können.
Oh Mist! Ben und Nicole werden gerade zu einem Tisch in der Ecke geführt. Nicole trägt ein schwarzes Neckholderkleid, das ich noch nie an ihr gesehen habe. Das blassrosa Band um ihre Taille passt sogar farblich zu den High
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