Verwuenscht und zugenaeht
Beifahrertür.
»Lassen wir das Thema. Ich bin nicht mehr das zehnjährige Mädchen, das du einmal kanntest. Und du bist keine Puppe mehr. Vielleicht sollten wir einfach so tun, als wäre das «, ich zeige in Richtung Restaurant, »nie passiert. Und hör auf, so viele Fragen zu stellen, okay? Ich habe in den letzten fünf Jahren zwar nicht in einer Schachtel gehockt, aber das bedeutet nicht, dass ich viel mehr weià als du.«
Ich setze mich ans Lenkrad, lege den Sicherheitsgurt an und warte, bis auch Ann eingestiegen ist. Sie schnallt sich an und stellt die Lehne ihres Sitzes so weit wie möglich zurück. Dann legt sie die FüÃe auf das Armaturenbrett und schaut durch das Schiebedach. Ich reiÃe mich zusammen und verziehe keine Miene, als ich den Dreck sehe, den sie auf dem Armaturenbrett hinterlässt.
»Wenn du nicht mehr zum Ballett gehst, was machst du dann in deiner Freizeit?«
Ich zucke die Schultern, starte den Motor und fahre vorsichtig rückwärts aus der Parklücke. Wie soll ich ihr erklären, dass es viele Dinge gibt, die man nicht sein ganzes Leben lang mag? Dass man irgendwann aus Puppen und Spielzeugponys herauswächst?
»Liest du noch Märchen?«
Ich schüttle den Kopf.
»Was ist mit diesen Ausmalpostern? Du hast jede Woche ein neues bekommen und fast dein ganzes Zimmer damit â¦Â«
»Nein«, falle ich ihr ins Wort. Gott, ich erinnere mich daran. Ich habe die Poster gesammelt und gewissenhaft mit den mitgelieferten Stiften ausgemalt. Mein Zimmer war praktisch mit Einhörnern, süÃen kleinen Hündchen, Blumenwiesen und Regenbögen tapeziert.
»Karaoke?«
Ich muss grinsen. Ich habe in meinem Zimmer gern irgendwelche blöden Popsongs nachgesungen. Eine Haarbürste musste als Mikrofon herhalten und Ann und ihre Plüschfreunde waren mein Publikum. »Mein Musikgeschmack hat sich verändert. Was ich jetzt höre, eignet sich nicht so gut für ⦠Karaoke.«
»Magst du wenigstens noch Eiscreme?«, fragt sie.
»Natürlich! Manche Dinge ändern sich nie.«
»Und warum ist das so?«
»Ann, mal ehrlich, ich war damals noch ein kleines, dummes Kind. Jetzt bin ich viel reifer.«
»Dafür hast du früher viel häufiger gelächelt.«
»Jetzt reichtâs! Diese Unterhaltung ist beendet! Du hast absolut nichts verstanden!«
Ann betrachtet wieder die Wolken durch das Schiebedach. »Stimmt, das habe ich wirklich nicht.«
A nn nimmt mein ganzes Bett in Beschlag. Ich wollte so nett sein, sie nicht auf dem Teppich schlafen zu lassen. Also habe ich ihr einen Schlafsack aus der Abstellkammer geholt und die Hälfte meines Bettes für sie freigeräumt. Als ich in Kissen und Decke gekuschelt einschlief, lag sie dicht an der Wand. Jetzt ist es mitten in der Nacht, ich hänge am Rand des Bettes und kann nicht mehr schlafen. Ann hat mein Kissen gnadenlos nach auÃen geschoben und mir meine Decke geraubt.
Ich hieve mich aus dem Bett, gehe zum Schreibtisch und hole meine Heftmappe aus dem Rucksack. Ich schlage sie ganz hinten auf, wo ich das Bild von Ben versteckt habe. Im fahlen Mondlicht, das durch die offenen Vorhänge fällt, kann ich nur sein Gesicht erkennen.
Ich beuge mich vor, stütze mein Kinn auf die Faust und betrachte den Umriss seines Körpers, der sich dunkel vor dem glitzernden Wasser hinter ihm abhebt. Mir wird immer wieder schmerzlich bewusst, wie vollkommen er ist. Für mich ist er der unglaublichste Mensch auf der ganzen Welt.
Ich seufze. Soll ich das Foto in den Mülleimer werfen oder laminieren lassen? Ich fühle mich hin- und hergerissen. SchlieÃlich stecke ich es wieder in die Heftmappe. Selbst wenn ich das Bild noch stundenlang ansehe, würde das nichts an meiner Situation ändern.
Ich gehe zum Bett zurück und ziehe meine Decke unter Ann hervor. Dann rolle ich mich auf dem Boden zusammen und starre in die Luft. Ein- oder zweimal döse ich sogar ein, bis es im Zimmer langsam hell wird. Jetzt halte ich es nicht länger auf dem Boden aus. Ich setze mich auf und mustere Ann. Sie liegt in den Schlafsack gekuschelt quer auf der Matratze. Ein Kissen hat sie unter dem Arm, ein zweites unter dem Kopf.
Eine Kaugummikugel hat sich neben mein Bein verirrt und ich hebe sie auf. Am liebsten würde ich sie mit voller Wucht auf Ann schleudern, doch stattdessen werfe ich sie in den Papierkorb. Ann schnarcht laut und
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