Verwuenscht und zugenaeht
Miss Perfect mutiert.
Ihr ist nicht mal aufgefallen, dass ich fehle. Es gibt auch keinen freien Platz neben ihr. Was sie wohl tun würde, wenn ich jetzt zu ihr ginge? Würde sie mit mir zu unserem Tisch kommen oder nur die Schultern zucken und sitzen bleiben?
Würde es damit enden, dass ich allein essen muss und sie nur noch von Weitem sehe? Würde sie mir das antun?
Mir dreht sich der Magen um. Ich dachte die ganze Zeit, dass ich sie nur an Ben verliere. Doch wie es aussieht, habe ich weit gröÃere Konkurrenz als ihn.
Das ist echt schwach. Warum suche ich mir nicht einfach neue Freunde? Warum muss ich alles von ihr abhängig machen?
Ich bin nicht wie Nicole.
Jedenfalls nicht wie die neue Nicole.
Die meisten Mitschüler können mit mir nichts anfangen. Sie verstehen meinen verdrehten Sinn für Humor nicht. Sie wollen nicht mit mir gesehen werden, weil sie sich für meine Klamotten und mein Benehmen schämen würden.
Nicole war da immer anders.
Früher jedenfalls.
Ich komme mit meinem Fotoprojekt einfach nicht voran. Ich habe zwei Filmrollen voller Bilder von meinen Converse-Tretern entwickelt, aber es sind alles nur langweilige Schnappschüsse. Künstlerischer Anspruch? Fehlanzeige.
Ich drehe mich zu Nicole um. Seit wir die Dunkelkammer betreten haben, hat sie kaum ein Wort mit mir gesprochen. Warum sagt sie nichts zur Mittagspause? Ich hätte gern gewusst, ob sie mich in der Mensa vermisst hat. Aber bis jetzt kam kein Wort von ihr. Stattdessen arbeitet sie mit verkniffener Miene an ihren Fotos. Sie trägt eine Designerjeans, zumindest sieht sie so aus, und eine geblümte Bluse aus flieÃendem Stoff.
»Warum kümmerst du dich nicht um dein Projekt?«, frage ich sie.
Nicole sieht zu mir auf. Vor ihr liegen Fotos von StraÃenschildern. Ein Vorfahrtschild kann unmöglich ihr Selbstporträt sein. »Ich bin schon fertig damit und dachte, ich mache ein paar coole Fotos für mein Zimmer.«
»Du bist schon fertig?« Wir müssen am Freitag abgeben. Ich habe immer noch keinen Plan, wie ich die Aufgabe umsetzen soll. »Welches Motiv hast du gewählt?«
Nicole zuckt die Schultern und winkt ab, sodass die Armbänder an ihrem Handgelenk klimpern. »Ach, nur eine zufällige Aufnahme vor meinem Haus.«
Sie sieht mich nicht an, während sie redet, sondern ist ganz damit beschäftigt, mithilfe des VergröÃerungsgeräts die beste Bildschärfe einzustellen. Dabei tippt sie ständig mit dem Fuà auf.
Ich fange an, ihre Zehen zu hassen. Trotz des schummrigen Lichts in der Dunkelkammer kann ich erkennen, dass sie leuchtend rosa lackiert sind. Ihre Schuhe haben nämlich nicht nur hohe Absätze, sie sind auch noch zehenfrei.
Ihr Haar ist wieder lockig und hinten lässig hochgesteckt. Und sie trägt Accessoires -Armreifen und eine rosafarbene Plastikperlenkette.
Jeder verändert sich. Alles verändert sich und gerät auÃer Kontrolle. Am liebsten möchte ich wieder neun Jahre alt sein. Ich möchte mir alberne Dinge wie Raggedy Ann und Kaugummikugeln wünschen. Dinge, die mir das Gefühl geben, ich müsste mir in meinem Leben um nichts wirklich Sorgen machen. Ich möchte nicht darüber nachdenken, ob ich ein Ferngespräch führen sollte, um mit meinem Dad zu reden. Und ich möchte vor allem nicht von meiner besten Freundin ignoriert werden.
Wie kann es sein, dass sich alle meine Wünsche erfüllen und ich mich trotzdem unglücklich und leer fühle?
»Warum bist du in letzter Zeit so komisch?« Ich kann die Frage einfach nicht länger zurückhalten.
Endlich sieht sie mich wieder an. Aber sie wirkt nicht überrascht, sondern eher beunruhigt.
»Wie meinst du das?«
»Ich weià nicht. Du scheinst plötzlich sehr darum bemüht zu sein, dich anzupassen. So kenne ich dich gar nicht. Du hast dich verändert.« Zuerst klingt meine Stimme zögernd. Doch als ich meine Sorgen endlich ausspreche, wird mein Ton deutlicher.
Sie verschränkt die Arme. »Wie kommst du darauf, dass ich mich verändert habe?«
Ich schnaube. »Natürlich hast du das.«
Sie schüttelt den Kopf. »Etwa weil ich mich besser anziehe? Was ist falsch daran, dass ich ein Mal in meinem Leben hübsch aussehen will?«
Ich starre sie entgeistert an, während sie sich wieder dem VergröÃerungsgerät zuwendet, als wäre die Unterhaltung für sie beendet. Ich
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