Verwüstung - Eine Geschichte des Dreißigjährigen Krieges
Folge, dass dieses System aus den Fugen geriet. Es genügte nicht mehr, Gegenmagie auszuüben oder eine alte Frau aus der Gemeinschaft auszustoßen, und dann sah man sich vielleicht gezwungen, einen Verdächtigen zu verbrennen, zwei zu verbrennen, drei oder auch zehn.
Dieser unselige Mechanismus kam während des Spätherbstes 1638 im schwedischen Heer in Gang. Wie bereits erwähnt, wurde jede Armee von zahllosen Frauen begleitet: von Frauen und Töchtern der Soldaten und Offiziere, Marketenderinnen, Mägden, Witwen und Huren. In der Wut über das große Pferdesterben begann ein Teil der Soldaten nun, unter diesen nach Hexen zu jagen. Sie hätten die Pferde ihrer Männer verhext, um ein Ende des Krieges herbeizuführen, lautete die Anklage. Vielleicht lagen diesen Gerüchten tatsächlich reale Handlungen zugrunde, verzweifelte Versuche verzweifelter Frauen, ein wenig Sand in das große und unbarmherzig mahlende Getriebe des militärischen Apparats zu streuen. Alles kann auch von Anfang bis Ende frei erfunden gewesen sein, wie es die Regel ist, wenn Menschen erst einmal als Hexenweiber und Blocksbergreiterinnen gehänselt werden. Einige Frauen wurden indessen aus dem Gewimmel und dem Abschaum des Feldlagers hervorgezerrt und unter erniedrigenden Umständen ums Leben gebracht. Dies war nur ein Zeichen unter mehreren dafür, wie weit die Fäulnis des Krieges und der Unsicherheit bereits in die Sinne der Menschen eingedrungen war. Übergriffe und Morde an Zivilisten waren alltäglich geworden, und so viele Patente Banér auch ausfertigen ließ, dass dergleichen nicht geduldet werde, es half nichts: Soldaten einer Armee, die von Kontributionen und Brandschatzungen lebte und in einem Krieg kämpfte, der sich selbst ernähren sollte, verhielten sich beinah zwangsläufig so – Missbrauch und Gewaltanwendung waren sozusagen im System enthalten. Verschwunden war jedes Gefühl dafür, für den rechten Glauben zu kämpfen. Kirchen wurden geplündert, Altäre geschändet, und in ihrer Raubgier schreckte ein Teil der Soldaten nicht davor zurück, vertrocknete Leichen auszugraben und zu fleddern. Es war nicht verwunderlich, dass «viele verzweifelten und nicht mehr glaubten, daß es einen Gott im Himmel gebe», wie ein Zeitgenosse schreibt.
Mit einer Reiterei, deren größter Teil sich in Fußgänger verwandelt hatte, und angesichts schwerer Versorgungsprobleme musste Banérs Heer zur Küste zurückkehren. Nachdem man eine Zeitlang die Kriegskasse aufgefüllt und die Reiterei zurück in den Sattel gehoben hatte, war die Armee wieder bereit, und am 31 . Dezember 1638 brach sie von ihrem Lager bei Neukloster auf und ging nach Süden. Es ist leicht, sich die Szene vorzustellen: endlose Ketten von Soldaten, Pferden und Wagen, die sich wie langgezogene Schattenkonturen durch eine verschneite Landschaft schlängeln; die gedeckten Karren, die schwanken und schaukeln, während sie langsam weiterrollen; das verklingende Geräusch von Pferdehufen, die ruhig über den froststarren Boden voranstampfen; die bepackten Männer in den Sätteln, ungelenk in ihren flauschigen Wämsern, Mänteln und Kürassen, ihr Atem wie weiße Bäusche um die Schlapphüte und Sturmhauben.
Keiner ahnte es wohl damals, denn es geschah undramatisch und ziemlich unmerklich, aber der Krieg hatte einen Wendepunkt erreicht.
3 . Ein sonderbarer Schneefall in Beraun
Eriks Krankheit – Banérs Offensive – Die Belagerung von Freiberg – Die Schlacht bei Chemnitz – Die Schweden gehen nach Süden – Prag weigert sich zu kapitulieren – Feuersturm über Böhmen – ‹Dort weint eine Hausfrau› – Über Marodeure – Noch ein schwedischer Rückzug – Die Bernhardiner – Die Franzosen marschieren nach Deutschland ein – Eine Begegnung in Erfurt
Während dieser ganzen Zeit befand sich Erik in Hamburg. Sein eigenes Tagebuch ist auffallend wortkarg, was diese Periode betrifft. Im dreizehnten Lebensjahr, allein, ohne Verwandte und Freunde in einer von Europas größten Städten, scheint er wieder einmal seine Begabung und seinen Fleiß als Schutzschild gegen eine unsichere Umwelt gebraucht zu haben. Er wurde rasch einer der besten Schüler des Rechenmeisters und durfte, als der tüchtige Junge, der er war, nach einiger Zeit zuweilen dessen Platz einnehmen und andere Schüler unterrichten.
Die Monate vergingen.
Die einzige Unterbrechung in der unentwegten Kleckserei mit Tinte und Papier trat im November 1639 ein, als Erik an Fieber erkrankte. Er musste im Bett
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