Verwüstung
Hinterlassenschaften des Feuers, sie konnte es nicht sagen.
Knapp außerhalb des gesperrten Bereiches parkte Dillard den Streifenwagen am Straßenrand, und alle stiegen aus. Der Geruch in der Luft bereitete Annie Übelkeit. Das war ihr offenbar anzusehen, denn Shep berührte ihren Arm und fragte, ob es ihr gut ginge.
»Der Geruch«, sagte sie leise und wünschte sich plötzlich, sie wäre zu Hause geblieben.
Er zog ein Taschentuch aus seiner Tasche. »Halt es dir vor Nase und Mund. Das hilft.«
Aber es war nicht nur der Geruch des Feuers, der sie so mitnahm. Unter diesem Geruch warteten andere Düfte – Angst, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, und in jedem lag das Versprechen einer Geschichte oder Information. So etwas war ihr schon etliche Male widerfahren, und sie wusste nie, was sie davon halten sollte. Einmal hatte sie in der Schulkantine einen Hauch des Parfüms einer Cheerleaderin wahrgenommen, und wie die Rauchwölkchen in einem Cartoon hatte er sich in einen gekrümmten Finger verwandelt, und sie war dem Duft bis zu dem Mädchen nach Hause gefolgt. Dort hatte Annie die Anspannung in der Familie des Mädchens gesehen, das Elend des Elternhauses, in dem sie lebte. Annie hatte gedacht, das Mädchen wäre bloß eine hochnäsige Elfklässlerin, aber nun war ihr klar, dass alles bloß Show war, Tarnung.
»Hey, Leo, warum haben wir hier gehalten?«, fragte Sheppard. »Mira hat gesagt, sie hat ein Parkhaus gesehen. Es gibt eins ein paar Straßen weiter. Fahren wir doch rüber und sparen etwas Zeit.«
»Aber wir sind nicht sicher, dass es das Parkhaus war.« Dillard warf Annies Mutter einen Blick zu. »Stimmt’s, Mira?«
Stimmt’s, Mira?, wiederholte Annie stumm, wobei sie Dillards leicht nasalen Tonfall nachahmte und die Lippen schürzte, wie er es tat. »Du blöder Vollidiot«, murmelte sie.
»Es sah aus wie ein Parkhaus, aber ich habe keine Ahnung, wo es sich befindet«, entgegnete ihre Mutter. »Wir können genauso gut hier anfangen.«
»Dies ist kein Ort für Kinder oder Hunde«, bemerkte Dillard, ohne jemanden dabei anzusprechen, obwohl Annie wusste, dass er natürlich sie meinte.
»Ich bin kein Kind.« Annie stopfte das Taschentuch in die Tasche ihrer Shorts. »Ich bin fünfzehn.«
»Ah. Hormone.« Er und der Sheriff warfen einander einen Blick zu. Kumpel, die einen Scherz teilten. »Behalt die Töle an der Leine.«
»Sie ist ein Retriever, keine Töle«, blaffte Annie.
»Hey, wir hatten Dutzende von Polizeihunden hier draußen, die keine Spur gefunden haben. Deinem Hund wird es nicht besser gehen.«
»Polizeihunde können mit Retrievern bei der Verfolgung von Duftspuren nicht mithalten. Das ist nachgewiesen.«
Endlich schaute Dillard sie an. »Du bist ganz schön rechthaberisch für ein Kind.«
In dem Moment, als er das sagte, gab er einen Duft von sich, der genauso kraftvoll war wie der Rauch, aber ganz anders geartet. Dieser Duft trug ein Bild von Dillard als kleinem Streber mit sich, dessen Eltern der Überzeugung waren, dass man Kinder weder sehen noch hören sollte.
»Ich darf eine eigene Meinung haben«, gab sie zurück. »Hier, Ricki.« Sie streckte der Hündin ein Hemd aus einer der Zellen hin. »Such!«
Ricki schnupperte, und Dillard verdrehte die Augen, als wollte er sagen, dass er Annies Anwesenheit nur tolerierte, weil er Informationen von ihrer Mutter brauchte. Annie hätte ihn am liebsten in seinen knochigen Arsch getreten. Und ihre Mutter konnte das spüren. Sie berührte Annies Schulter, schüttelte den Kopf und murmelte einige Worte in ihrer Geheimsprache. » Nit noke. « Nicht jetzt. Warum nicht jetzt?, fragte sich Annie. Was war schlecht an jetzt?
Aber sie hielt den Mund und trottete mit ihrer Mutter wie Menschen zweiter Klasse hinter den Männern her. Das ärgerte sie. Wissen Sie was, Mr Dillard? Ich war in D.C. mit meiner Mom auf der Straße, ich bin für Abtreibung, für Bürgerrechte, für Krankenversicherungen, für alles, gegen das Sie sich wehren. Sie sind ein bürokratisches Arschloch. Es juckte sie, das zu sagen – aber sie tat es nicht.
Annie bemerkte, wie die Finger ihrer Mutter die Malachit-Halskette betasteten, die Nadine ihr mit auf den Weg gegeben hatte. Sie bezweifelte, dass irgendein Stein, egal, wie magisch er sein sollte, ihre Mutter gegen Dillards Negativität abschirmen könnte.
Annie wusste genau Bescheid über die Geschichte von Dillard und ihrer Familie – die üblen Gefühle zwischen ihm und Shep, die Sache mit dem schwarzen Wasser, die
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