Verwüstung
die sie in den Schlaf lullten. Manchmal, wenn nichts davon funktionierte, bat sie ihre Mutter, ihr über den Rücken zu streicheln, ihr vorzulesen, eine Geschichte zu erzählen, damit sie zur Ruhe finden konnte.
Das war etwas, das sie ihren Freundinnen gegenüber nicht zugeben konnte. Die würden es nicht verstehen. Wie auch? Wenn man fünfunddreißig Jahre durch die Zeit reiste, verlor man die Fähigkeit, Gleichaltrigen bestimmte Dinge klarzumachen, und lernte den Wert eines ganz normalen Lebens schätzen. Man begriff, dass die eigene Mutter, trotz ihrer Eigenarten, ein Anker war. Man begriff, dass die Urgroßmutter bei aller Verrücktheit weise war. Und man begriff, dachte sie, dass der Freund oder Verlobte ihrer Mutter oder was immer Shep war, so nah an einen Vater herankam, wie es nur ging. Man begriff, dass das Unmögliche möglich war und dass man trotzdem immer nur einen Schritt auf einmal machen konnte.
Heute schien sie überdies nur Babyschritte zu machen, und egal, was sie tat, sie konnte die Angst nicht hinter sich lassen.
»Hier drüben«, sagte sie zu Ricki. Die Hündin schnüffelte an Annies Füßen, folgte einem Duft, der für sie genauso rätselhaft war wie alles andere, was an diesem langen, merkwürdigen Tag geschehen war. »Das Sperrholz ist hier drüben.«
Mehrere Sperrholzplatten standen vor den hölzernen Regalen, in denen sich Sheps Windsurfsachen und heute auch jede Menge Bücherkisten befanden. Segel, Brett, Mast und mehrere Neoprenanzüge hingen an einem Haken. Annie beruhigte dieser Anblick. Er gab ihr das Gefühl, dass Shep in der Nähe war – im Haus, im Lieferwagen – und dass er gleich kommen und ihren Namen rufen würde. Hey, Annie, als würde er sie schon seit hundert Jahren kennen.
Sie nahm eine Taschenlampe aus der ordentlichen Reihe Taschenlampen, die neben dem Sperrholz hing, und als sie sie einschaltete, funktionierte sie auch. Natürlich. Shep hatte sich darum gekümmert, dass alle Taschenlampen hier frische Batterien hatten und neue Birnen. Als ihre Mutter dafür zuständig gewesen war, hatte es keine Ordnung gegeben. Taschenlampen lagen neben Vitamintabletten, die Gartenwerkzeuge bei den Farbeimern.
Sie stellte zufrieden fest, wie hell die Lampe leuchtete, heller als die Deckenleuchte der Garage, und richtete sie auf Ricki, die sich zwischen dem Lieferwagen und Sheps Jetta verkroch. Sie kratzte an der Garagentür und jaulte.
»Was ist?«, fragte Annie. »Musst du mal raus? Vergiss es.« Sie ging hinüber zu den Rasensoden, die Sheppard neben der Tür nach draußen abgelegt hatte, acht nebeneinander, eine grüne Oase. »Ricki, hier musst du gehen. Das ist jetzt dein Hundeklo, Süße.«
Die Hündin ignorierte sie und lief eilig am Garagentor entlang, die Nase am Boden. Alle Katzen waren drinnen in Sheppards Büro, samt Futter und Katzenklo, also konnte es keine von ihnen sein. Ricki hatte wahrscheinlich irgendeinen anderen Geruch wahrgenommen, vielleicht ein Tier, das Zuflucht vor dem Sturm suchte.
Annie schaltete die Taschenlampe aus, klemmte sie unter den Arm und kehrte zum Sperrholz zurück. Sie zog die vorderste Platte heraus und zerrte sie hinüber zur Tür, die ins Haus führte. Sie lehnte sie an die alten Regale mit Schuhen – und roch plötzlich etwas Stechendes, wie alter Cheddar-Käse, und sie fühlte sich … eigenartig. Gänsehaut bildete sich auf ihren Armen, die Härchen in ihrem Nacken richteten sich auf, ihre Mundhöhle wurde trocken. In ihrem Kopf erschien das Bild einer Schwarzen, an Händen und Füßen gefesselt mit Klebeband, sie lag im Wohnzimmer, das von der Küche abging. Was hatte das zu bedeuten?
Ricki kratzte und jaulte weiter an der Garagentür. Annie schüttelte das Bild ab, griff nach dem Sperrholz, zerrte es in Richtung Hauswirtschaftsraum, öffnete die Tür. »Mom? Kannst du mal kommen? Mom?«
Ihre Mutter erschien, das Gesicht besorgt, ängstlich, voller Emotionen, die Annie nicht identifizieren konnte. »Ist da nur ein Brett?«
»Es sind vier oder fünf«, flüsterte sie hastig. »Hör mal, weißt du noch, wie ich in dem Parkhaus Sachen wahrgenommen habe? So was ist mir eben wieder passiert.«
»Gut, Süße, das ist gut. Komm jetzt, lass uns das Sperrholz ins Haus bringen. Kannst du die Leiter holen?«
Mit diesen Worten zog ihre Mutter das Sperrholz ins Haus. Tränen brannten in Annies Augen, und sie lief in den Flur und schrie: »Würdest du mir mal zuhören? Ich will dir etwas Wichtiges sagen.«
Ihre Mutter ließ die Platte
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