verwundet (German Edition)
haben doch noch immer das Gefühl, dass Sie mit mir nicht vom Fleck kommen. Ich erkläre Ihnen meine Liebe, und Sie erklären mir, dass diese Liebe nicht real sei.“
„Nein, Lisa. So habe ich mich nicht ausgedrückt. Deine Liebe ist schon real, aber sie gilt mir vor allem als Therapeutin, als Mensch, der dich versteht, der versucht, dir zu helfen, der dir zuhört und sich dir voll und ganz widmet. Als du ein Säugling warst, hättest du die psychische, aber auch die physische Nähe deiner Mutter gebraucht. Man nennt das eine Mutter-Kind-Symbiose.
Du wurdest jedoch durch deine Klinikaufenthalte zu früh aus dieser Symbiose herausgerissen. Daraus ist eine Lücke entstanden, eine Wunde sozusagen. Hinter deinem Wunsch, mit mir zu schlafen, verbirgt sich der Wunsch nach Verschmelzung, denn deine Seele versucht, diese Lücke zu schließen und damit die entstandene Wunde zu heilen. Du versuchst, eine Symbiose herzustellen. Das wird aber nicht funktionieren! Es kann nicht klappen, Lisa! Wenn ich mit dir schlafen würde, würdest du hinterher dieselbe Leere empfinden. Du projizierst alle deine Sehnsüchte, deinen Wunsch nach Liebe und Geborgenheit, nach Aufgehobensein auf mich. Im Grunde genommen möchtest du nachholen, was dir als Kind verwehrt war, eine völlige Geborgenheit an der Brust deiner Mutter, und du glaubst, ich könne dir dies alles geben.“
„Aber das könnten Sie doch auch!“
„Nein, Lisa. Die Erfüllung von Bedürfnissen, die während deiner Kindheit nicht gestillt wurden, ist später nicht möglich. So etwas ist nicht nachzuholen. Das ist eine traurige Tatsache und du musst lernen, damit zu leben. Der Sinn dieser Therapie ist es, einen autonomen Menschen aus dir zu machen.“
Lisa ließ den Kopf hängen. Durch ihre Trauer hörte sie die liebevolle Stimme von Frau Dr. Dunkelmann. „Liebe, Lisa, ist etwas Wunderbares, aber sie darf nicht zur Sucht werden. Du musst lernen, deine Grenzen und auch die anderer Menschen zu wahren.“
*
„Ist Donner Ihr Mädchenname oder Ihr angeheirateter?“ Ihr Lächeln war verschmitzt. „Der Name scheint Ihnen nicht zu gefallen.“
„Er passt einfach nicht. Ich finde, Sie sehen aus wie eine Von und Zu , wenn Sie verstehen, was ich meine. Sie haben so etwas Edles an sich.“
Ihr forschender Blick irritierte ihn, und so winkte er ab: „Ist ja auch egal.“ Die taubenblaue Bluse unterstrich das Blau ihrer Augen. Zu der Bluse trug sie einen schwarzen Rock. Wie immer saß sie mit übereinander geschlagenen Beinen vor ihm. Sie hatte zierliche Fesseln und kleine Füße, die in schwarzen Pumps mit halbhohen Absätzen steckten. Der Anblick gefiel ihm. Er lenkte seinen Blick auf ihr Gesicht. „Sie haben wunderschöne Augen.“
„Danke.“
„Kennen Sie das Lied Blue Eyes von Elton John?“ fragte er leise.
„Ja.“
„Eine schöne Ballade.“
Sie lächelte. „Stimmt, und soweit ich mich erinnere, auch ein riesiger Erfolg für ihn.“
Harald musste sich zwingen, sie nicht anzustarren. Ihr Blick irritierte ihn. Nervös schwieg er.
„Was denken Sie?“
„Dass Sie schön sind“, murmelte er.
„Bitte?“
„Ich habe das Gefühl, Zug zu fahren. Ich selbst befinde mich im Waggon der Gegenwart und vor mir sind die Waggons der Zukunft. Ich habe das Bild im Kopf, wie sich die Waggons der Vergangenheit von hinten über die Abteile der Gegenwart und auch der Zukunft schieben.“
Sie nickte. „Eine interessante Metapher.“
„Zu dem Gefühl des Zugfahrens kommt noch das Gefühl, mich etwas außerhalb der Zeit zu befinden.“
„Können Sie das näher beschreiben?“
„Ich habe nur meine Arbeit und die Stunden mit Ihnen. Außerdem gelingt es mir nicht mehr, zu lesen. Sie müssen wissen, dass Lesen eine meiner größten Leidenschaften ist. Ein Leben ohne Bücher konnte ich mir nie vorstellen. Und nun... Ich kann mich einfach nicht konzentrieren. Stattdessen bin ich unentwegt am Denken.“
„Das ist normal, wenn man eine Therapie macht. Bei Ihnen verstärkt sich das noch, weil Sie außerhalb Ihrer gewohnten Umgebung sind. Wie empfinden Sie dieses Denken ? Haben Sie das Gefühl, dass es konstruktiv ist, oder ist es eher ein fruchtloses Grübeln?“
„Ich denke über das nach, was Sie mir sagen. Außerdem führe ich imaginäre Gespräche mit Ihnen, antworte Ihnen nachträglich noch im Geiste.“
Lächelnd erwiderte sie: „Das ist ein gutes Zeichen.“ Nach einem kurzen Schweigen sagte er: „Ich habe so eine unglaubliche Wut in mir.“
„Auf was oder
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