verwundet (German Edition)
Hause kam, ließ sie sich müde und verzweifelt auf die Schlafcouch im Wohnzimmer fallen, die Heidi für sie hergerichtet hatte. Eine gute Lösung war das auf Dauer auch nicht. Oft kam Mustafa von seiner Nachtschicht nach Hause, wenn sie gerade ins Bett gegangen war. Sie hielt sich dann die Ohren zu, weil sie das Gestöhne der beiden im Schlafzimmer nicht aushielt. Auch heute war er wieder zur Nachtschicht, und es konnte nicht mehr lange dauern, bis er nach Hause kam. Er wohnte eigentlich bei seiner Mutter ein paar Straßen weiter. Aber seit er Heidi kannte, wohnte er nur noch bei ihr. Es störte Lisa, dass sie sich niemals zurückziehen konnte. Auch luden Heidi und Mustafa oft ihre türkischen Freunde ein. Lisa mochte sie zwar gerne, aber die Feste arteten immer aus, und sie hatte zu wenig Ruhe. Sie musste sich also eine andere Bleibe suchen. Andererseits war das Verhältnis zu ihrem Chef so gespannt, dass sie nicht wusste, ob sie dort wirklich noch lange arbeiten würde. Die ganze Arbeit kotzte sie an. Immer stank sie nach Rauch, hatte meist schlecht oder gar nicht gegessen. Am Ende ihrer Schichten hatte sie oft zu viel getrunken, denn der Chef verlangte, dass sie Einladungen der Männer zum Trinken annahm. Was war das nur für ein Leben?
*
Harald suchte nach Lydia. Als er den Weg zur Straßenbahn abgegangen war, sie jedoch nicht gefunden hatte, nahm er sich kurzerhand ein Taxi. Vor ihrer Wohnungstür verharrte er unschlüssig. Dann atmete er tief durch und klingelte. Als sie die Tür öffnete, sprudelte er sofort heraus: „Entschuldigen Sie die späte Störung, aber ich habe mir Sorgen um Sie gemacht.“
Sie war sehr blass und schien geweint zu haben. Wortlos wandte sie sich um und ging in ihr Wohnzimmer. Sie stellte sich an das Fenster und lehnte den Kopf an die Scheibe. Er sah verlegen auf seine Fußspitzen. Ein merkwürdiges Geräusch ließ ihn hochfahren. Er sah, dass ihre Schultern zuckten, und bemerkte entsetzt, dass sie weinte. Harald trat hinter sie, hob die Arme und ließ sie wieder sinken, ballte sie zu Fäusten. Schließlich legte er seine Hände auf ihre Schultern und streichelte sie zart. Sie wehrte ihn nicht ab, und so drehte er sie langsam zu sich herum und zog sie in seine Arme. Sie ließ es geschehen. Ihr Kopf lehnte an seiner Schulter, ihre Tränen benetzten sein Hemd. Vor seinem geistigen Auge sah er noch einmal die Szene in der Kneipe. Er hatte Lisas Worte nicht verstehen können, ihm hatte ihr Gesichtsausdruck gereicht. Was hatte sie bloß zu Lydia gesagt? Er umschlang sie fester und begann, ihr Haar zu streicheln. Sie hob den Kopf und sah ihn an. In ihren Wimpern hingen Tränen, das Weiß ihrer Augen war gerötet. Ihre Augen faszinierten ihn. Das Grün ihrer Iris war von einem blauen Rand umgeben, und die blaugrauen und braunen Sprenkel verliehen ihren Augen eine unglaubliche Tiefe. Eine Weile sahen sie sich wortlos an. Dann löste sie sich von ihm, ging zum Sofatisch, auf dem Taschentücher lagen, wischte sich über die Augen und schnäuzte sich. Sie wandte sich ihm wieder zu. „Es tut mir leid. Ich weiß, Sie haben Ihre eigenen Probleme.“
Er räusperte sich: „Unsinn. Deswegen bin ich doch gekommen.“
Ihre Augen wurden wieder feucht: „Ich habe völlig versagt, und nun habe ich sie verloren. Endgültig!“
Er schüttelte den Kopf. „Geben Sie ihr etwas Zeit. Vielleicht fängt sie sich.“
„Tatsache ist, dass ich das Mädchen lieb gewonnen habe und...“, sie wurde von einem Klingeln unterbrochen. Sie hastete zum Telefon und riss den Hörer von der Gabel: „Lisa?“
Sie hängte den Hörer ein und sagte enttäuscht: „Aufgelegt.“
Harald sah auf die Uhr und sagte: „Nun, wer außer Lisa sollte so spät noch anrufen?“
Lydia nickte. „Ich...“, sie zögerte. „Wollen Sie vielleicht etwas trinken? Einen Tee oder etwas anderes?“
„Ein Glas Wasser würde mir reichen.“
Sie nickte, ging in die Küche und kehrte mit einer Flasche und zwei Gläsern zurück. Sie setzten sich auf die Couch. Während Lydia einschenkte, sagte sie: „Ich habe es mir nicht leicht vorgestellt, aber es ist noch schwieriger, als ich dachte. Ich hätte Lisa gleich nach dem Tod von Mara zu einem Psychologen bringen sollen.“
„Na ja!“
„Ich weiß, Sie halten nicht viel davon.“
„Nein, wirklich nicht. Ich habe da mal einen guten Spruch gehört. Psychologen sind Leute, die wissen, wie ihre Neurosen auf lateinisch heißen.“
„Na ja, ich weiß nicht.“ Sie runzelte zweifelnd die
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