verwundet (German Edition)
mitkommen?“
„Was wird gegeben?“
„Die Carmina Burana von Orff.“
„Uff!“
Angelika sah ihn fragend an.
Er winkte ab. „Schlechte Erinnerungen.“
„Wenn das Konzert für dich zu belastend ist, dann...“
„Nein! Ich komme mit. Das Konzert ist lange her. Irgendwann muss man seine Erinnerungen mal ad acta legen. Wieso hast du zwei Karten?“
„Ich wäre normalerweise mit einer Freundin ins Konzert gegangen.“ Sie zwinkerte ihm zu. „Frisch verliebt. Da hatte die Reise mit dem neuen Freund deutlich mehr Chancen als ich und das Konzert.“
Er sah an sich herunter. „Jeans und Pullover. Nimmst du mich in diesem Aufzug mit?“
„Kleidung ist nun wirklich das Unwichtigste.“
Er musterte ihren schwarzen Rolli und die graue Hose Als sie seinen Blick sah, sagte sie. „Willst du, dass ich mich umziehe?“
„Überhaupt nicht. Du siehst immer klasse aus!“
Je näher sie der Konzerthalle kamen, desto mulmiger wurde ihm. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, mitzugehen. Aber irgendwann musste er es endlich mal überwinden. Die Musik nahm ihn jedoch völlig gefangen. Zeit und Raum existierten nicht. Er war wieder sechzehn Jahre alt. Er sah Clärchen vor sich. Die Carmina Burana war eines ihrer Lieblingskonzerte gewesen. Doch sie hatte versucht, sich gegen die Mitnahme in Konzerte zu wehren, seitdem der Alte sie aus dem Chor genommen hatte. Sie hatte ihre kleine Hand in seine geschoben, die Tränen waren ihr in Strömen die Wangen heruntergelaufen, doch sie hatte keinen Mucks von sich gegeben. Harald hatte hilflos neben ihr gesessen. Als er voller Zorn zum Vater gesehen hatte, hatte er entdeckt, dass sein Vater von der Musik berührt gewesen war. Wie immer! Er dachte an alte Fotografien, auf denen er im Freundeskreis dirigierend zu sehen gewesen war. Imposant in seiner Größe mit den dichten Augenbrauen und dem markanten Gesicht. Seine Mutter hatte dagegen immer relativ ungerührt ausgesehen. Er hatte sie betrachtet, wie sie im eleganten, schwarzen Hosenanzug die Musiker beobachtet hatte. Er war immer stolz auf sie gewesen, auf ihre Schönheit, ihr zartes Gesicht mit den grünen Augen, mit ihren roten, kinnlangen, gescheitelten, glänzenden Haaren. Er hatte sie geradezu angebetet. Lange Jahre hatten er und Clärchen sie als Heilige gesehen, die so sehr gegen den jähzornigen, prügelnden Vater abstach. Wie sehr sie sich damals getäuscht hatten! Wieder hatte er Clärchen angesehen. Sie war eine gelungene Mischung seiner Eltern gewesen. Sie hatte die weiße Haut der Mutter ohne deren Sommersprossen, ihr Haar war nicht rot, sondern kastanienbraun, und sie hatte die Locken des Vaters geerbt. Manchmal hatte sie auf ihn fast ätherisch gewirkt, als wäre sie gar nicht richtig da. Und nun war sie wirklich nicht mehr da. Er ballte die Hände auf seinen Oberschenkeln zu Fäusten. Plötzlich legte sich eine Hand auf seine rechte Faust und streichelte sie. Er betrachtete Angelikas feingliedrige Finger. Er drückte ihre Hand und ließ sie für den Rest des Konzertes nicht mehr los. Als die Musik verstummt und auch der Beifall verklungen war, erhoben sich schon wieder viele Leute, um unbedingt als Erste an der Garderobe zu sein. Er und Angelika blieben jedoch sitzen. Sie gehörten zu den Letzten, die ihre Plätze verließen. Nur ungern ließ er Angelikas Hand los.
Sie lächelte ihn an. „Der erste Ansturm bei den Garderoben wird vorbei sein. Ich möchte gerne noch zur Toilette. Holst du unsere Mäntel?“
„Klar.“ Er wagte es kaum, sie anzusehen.
Mit den Mänteln über dem Arm wartete er ungeduldig auf sie. Als er sie auf sich zukommen sah, klopfte sein Herz bis zum Hals. Sie war viel schlichter angezogen als viele der anderen Frauen, die in ihren Kleidern herausgeputzt wirkten und mit Schmuck behangen waren. Aber sie schlug alle mit ihrer natürlichen Schönheit und ihrem selbstbewussten Auftreten. Stolz erfüllte ihn. Am liebsten hätte er sie jetzt sofort geküsst. Als ob sie seine Gedanken lesen könne, zwinkerte sie ihm zu. Er half ihr in den Mantel. Würde sie ihn jetzt wegschicken? Sie verließen das Konzerthaus und gingen zu ihrem Auto. Er wagte nicht, irgendetwas zu sagen. Als klar wurde, dass sie zu sich fuhr, atmete er innerlich auf. Er wollte jetzt nicht allein sein. Er war von der Musik noch sehr mitgenommen. Ob er sie je wieder ohne Schmerz würde genießen können? Er räusperte sich. „Du bist so ruhig.“
„Ich lausche noch der Stimmung in mir nach.“
„Ich habe sie seit
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