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verwundet (German Edition)

verwundet (German Edition)

Titel: verwundet (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Constanze Kühn
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werde dich anrufen.“
    „Ja, sicher.“
    Sie sah ihn nicht mehr an, und nach einem Moment der Unentschlossenheit ging er.
    *

***
    N achdem die innere Starre von Lisa gewichen war, war der Schmerz mit voller Wucht ausgebrochen. Die Sitzungen mit Frau Dr. Dunkelmann strengten sie an. Die Ärztin ließ nicht locker. Sobald sie merkte, dass da ein wunder Punkt bei Lisa war, hakte sie nach. Lisa hatte keine Kraft mehr, dem zu widerstehen. Sie gab nach, und immer mehr quälende Erinnerungen stiegen in ihr hoch. Irgendwann stellte sie jedoch fest, dass es gut tat, darüber zu sprechen. Im Moment saß sie im Freizeitraum, wo die Beschäftigungstherapie stattfand. Einige Patienten flochten Körbe, andere beschäftigten sich mit Seidenmalerei, wieder andere malten mit Aquarellfarben. Lisa zeichnete. Sie starrte aus dem Fenster. Das Krankenhaus lag am Kanal. Heute schien die Sonne und brachte das Wasser zum Glitzern. Die Bäume jedoch boten in ihrem fast unbelaubten Zustand einen trostlosen Anblick. Genauso sah es in ihrem Inneren aus. Sie wandte sich wieder dem Zeichenblock zu. Sie versuchte, Lydia zu malen, aber es gelang ihr nicht, Lydias Gesicht deutlich vor ihrem inneren Auge entstehen zu lassen. Sie verstand das nicht. Immer, wenn sie es versuchte, schob sich Frau Dr. Dunkelmanns Gesicht davor. Sie riss das Blatt vom Zeichenblock, zerknüllte es und warf es in den Papierkorb. Dann eben nicht. Sie hielt einen Moment inne. Dann fuhr ihre Hand mit dem Kohlestift über das Papier. Mühelos gelang es ihr, Frau Dr. Dunkelmanns Gesichtszüge auf das weiße Blatt zu bannen. Mit den Augen tat sie sich schwerer. Ihr wollte es einfach nicht gelingen, den bezwingenden Ausdruck einzufangen. Sie arbeitete konzentriert, radierte wieder,
    fing von neuem an. Schließlich war sie einigermaßen zufrieden. Sie legte die Zeichnung in die Mappe, in der sich schon viele Skizzen befanden. Dann holte sie sie wieder heraus. Was sollte sie mit all diesen Werken tun? Sie konnte sie eigentlich auch wegwerfen. Aber irgendwie war es doch schade darum. Zumindest diese Zeichnung konnte sie ja der Ärztin schenken. Sie sah auf die Uhr. Noch zwanzig Minuten bis zu ihrer Sitzung mit Frau Dr. Dunkelmann. Lisa war aufgeregt. Obwohl die Sitzungen viel Schmerz verursachten, konnte sie sie jedoch in letzter Zeit kaum abwarten. Viel zu schnell verging die Zeit während der Therapiestunden. Die hellen Augen sahen sie niemals befremdet an, stets war ihr Ausdruck gütig und liebevoll. Lisa war unruhig. Endlich war es soweit. Sie brachte ihre Zeichensachen auf ihr Zimmer und machte sich auf den Weg zum Büro der Ärztin. Sie klopfte und trat ein.
    Frau Dr. Dunkelmann empfing sie mit einem Lächeln. „Komm herein, Lisa, setz dich. Ich bin gleich fertig.“ Lisa setzte sich und beobachte die Ärztin verstohlen. Die Ärztin trug niemals ihren Kittel, wenn sie mit Lisa arbeitete, und heute hatte sie einen himmelblauen Pullover an, der ihren hellen Teint und die grauen Augen betonte. Sie erhob sich, gab Lisa wie immer die Hand und setzte sich ihr dann gegenüber. In Lisa tauchte die Frage auf, warum sie ihr immer gegenüber und niemals neben ihr saß. Sie wollte ihr eigentlich näher sein. Wie üblich wartete Frau Dr. Dunkelmann ab und ließ Lisa den Vortritt. Doch Lisa schwieg und die Ärztin fragte: „Was geht dir gerade durch den Kopf?“
    Lisa zuckte etwas zusammen, sie wollte eigentlich nicht über ihren Wunsch nach Nähe sprechen, aber andererseits... die Psychiaterin hatte ihr einmal erklärt, wie wichtig es sei, in den Sitzungen immer das auszusprechen, was ihr gerade in den Sinn kam, und so sagte sie leise. „Ich habe mich gefragt, warum Sie mir immer nur gegenüber sitzen?“
    „Möchtest du, dass ich woanders sitze?“
    Lisa schüttelte fast unmerklich den Kopf.
    „Warum hast du mich dann gefragt?“
    „Ich weiß nicht.“
    Die grauen Augen blickten Lisa prüfend an.
    Lisa kaute auf der Innenseite ihrer Wange herum. Unwillig sagte sie: „Es ist nicht so wichtig.“
    „In diesen Gesprächen ist alles wichtig, Lisa. Wohin soll ich mich also setzen?“
    „Ach, vergessen Sie es einfach.“ Trotzig presste sie ihre Lippen aufeinander. Beide schwiegen.
    Schließlich fragte die Ärztin. „Sind dir noch Erinnerungen gekommen?“
    Lisa saß in sich zusammengesunken da. „ Es war Besuchszeit, und meine Mama kam spät und ging früh. Ich habe geweint, aber sie ging trotzdem .“
    „Warst du allein im Zimmer?“
    „ Nein, wir lagen zu viert. Alle anderen

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