Verzaubertes Verlangen
stand sie auf und trocknete ihre Tränen.
Es reichte. Sie konnte sich keine fruchtlosen Gefühlsduseleien und romantischen Tagträume erlauben. Sie war ganz allein für den Lebensunterhalt ihrer Familie verantwortlich. Ihrer aller Zukunft hing davon ab, dass es ihr gelang, in London Karriere als Fotografin zu machen. Nichts und niemand durfte sie von den kühnen Plänen ablenken, die sie und die anderen geschmiedet hatten. Erfolg war nur durch harte Arbeit, Klugheit und eiserne Konzentration auf das Wesentliche zu erreichen.
Tante Beatrice hatte Recht, dachte sie, während sie das tränenbenetzte Jackett hochnahm. Es hatte keinen Sinn, wegen eines toten Kunden sentimental zu werden. Schließlich hatte sie Gabriel nur wenige Tage gekannt und nur eine einzige Liebesnacht mit ihm verbracht.
Er war eine romantische Phantasie, mehr nicht.
Sie legte das Jackett wieder in den Kleiderschrank und schloss die Tür.
5
Drei Monate später …
»Ich habe keine Ahnung, wie das passiert ist«, sagte Gabriel, »aber ich scheine mir jüngst eine Ehefrau zugelegt zu haben.«
»Was redest du denn da für Unfug?« Mit ausholenden Schritten durchquerte Caleb die Bibliothek und baute sich
auf der anderen Seite des Schreibtisches auf. »Soll das ein Scherz sein, Cousin?«
»Ich denke, du kennst mich gut genug, um zu wissen, dass ich nicht zu Scherzen neige, wenn es um meine zukünftige Frau geht.«
Gabriel hatte sich mit beiden Händen auf die Schreibtischplatte gestützt vorgebeugt, um den Artikel zu lesen. Er richtete sich auf und drehte die Zeitung herum, damit Caleb den kleinen Artikel mit eigenen Augen sehen konnte.
Caleb nahm die Zeitung und las laut vor.
FOTOAUSSTELLUNG IN DER NOCTON STREET
Am Donnerstagabend versammelte sich eine große Zuschauerschar in der neuen Fotogalerie in der Nocton Street. Die ausgestellten Bilder zählen nach der allgemein bekundeten Ansicht der Anwesenden zu den herausragendsten und beeindruckendsten Beispielen der fotografischen Kunst. Verschiedenste traditionelle Themen waren vertreten, einschließlich Landschaftsbildern, Stillleben, Architektur- und Porträtaufnahmen.
Die Bilder waren sämtlich von außergewöhnlicher Schönheit und Ausdruckskraft und wurden zu Recht als hohe Kunst gefeiert. Doch nach der bescheidenen Ansicht des Verfassers dieses Berichts hinterließen vier Fotografien, die im Katalog als die ersten Bilder einer Träume betitelten Reihe aufgeführt wurden, den tiefsten Einruck.
Obgleich die Fotos in der Kategorie »Architekturaufnahmen« ausgestellt sind, verbinden sie doch in bemerkenswerter Weise Porträtfotografie, Architektur und eine metaphysische Qualität, die mit Fug und Recht als
traumgleich bezeichnet werden kann. Eins der Bilder wurde verdientermaßen mit dem ersten Preis ausgezeichnet.
Mrs. Jones, die Fotografin des preisgekrönten Bildes, befand sich unter den Besuchern. Sie ist noch ein recht neuer Stern am Londoner Fotografenhimmel, doch ihr Erfolg ist wahrlich überwältigend. Zu ihren Kunden zählen bereits einige der angesehensten Mitglieder der gehobenen Gesellschaft.
Die betörende Witwe trug wie üblich Trauer. Ihr elegantes schwarzes Kleid brachte ihr glänzendes dunkelbraunes Haar und ihre bernsteinfarbenen Augen bestens zur Geltung. Etliche der Anwesenden ließen sich zu der Bemerkung hinreißen, die Fotografin selbst sei ebenso atemberaubend wie ihre Fotografien.
Mrs. Jones’ anrührende Trauer um ihren verstorbenen Mann, der auf tragische Weise sein Leben verlor, während die beiden auf Flitterwochen im Wilden Westen waren, ist in Fotografiekreisen bestens bekannt. Die Lady hat wiederholt bekundet, dass sie die große Liebe ihres Lebens verloren hat und niemals jemand anderen lieben wird. All ihre Hingabe, all ihre Empfindungen und ihr Einfühlungsvermögen stehen nun im Dienste ihrer Kunst und deren Perfektionierung, zum großen Genuss von Kennern und Sammlern.
»Heiliges Kanonenrohr.« Caleb blickte von dem Artikel auf. Seine von Natur aus bereits strengen Züge verhärteten sich noch mehr. »Glaubst du wirklich, dass das dieselbe Fotografin ist, die du engagiert hast, um die Sammlung in Arcane House aufzunehmen?«
Gabriel ging zu den hohen Fenstern auf der anderen Seite der Bibliothek. Er verschränkte seine Hände hinter dem Rücken und schaute hinaus in den verregneten Garten. »Es könnte ein Zufall sein.«
»Ich weiß, was du von Zufällen hältst.«
»Ich muss realistisch bleiben. Wie stehen die Chancen, dass sich drei
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