Verzaubertes Verlangen
wie sie das verstehen sollte. Heute Abend schien alles, was sich um ihre Beziehung drehte, plötzlich ausgesprochen verwirrend. Die Dinge waren bedeutend einfacher gewesen, als er noch eine bloße Phantasie war.
»Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht, Sir.« Sie hielt das Mieder ihres Kleids mit einer Hand zusammen und eilte zur Tür. »Zusätzlich zu meinen angegriffenen Nerven bin ich auch noch völlig erschöpft.«
Zumindest Letzteres entsprach der Wahrheit, dachte sie. Sie fühlte sich unerklärlich müde. Doch sie ahnte nicht, dass sie heute Nacht keinen Schlaf finden würde.
»Eins noch, bevor Sie gehen, Mrs. Jones.«
Die kühl ausgesprochenen Worte ließen ihre Hand an der Türklinke erstarren. Beklommen schaute sie zu ihm zurück. Er stand vor dem Kamin, eine dunkle Silhouette vor dem Feuerschein, sinnlich und unwiderstehlich in seinem offenen Hemd und mit der gelösten Krawatte. Ihr Unbehagen wuchs.
»Ja«, erwiderte sie höflich.
»Sie haben meine Frage nicht beantwortet.« Er ging zu dem kleinen Tisch mit dem Brandy, nahm die Karaffe und schenkte sich nach. »Was haben Sie gesehen, als der Mörder die Treppe hinuntergeflüchtet ist?«
Er würde nicht locker lassen, erkannte sie. Sie hatte den Eindruck, wenn Gabriel Jones erst einmal etwas aufs Korn genommen hatte, dann ließ er nicht mehr davon ab. Wie ein Jäger, der seine Beute gesichtet hat , dachte sie. Das Bild war beunruhigend. Doch gleichzeitig auch unerklärlich erregend. Es war wie eine Herausforderung.
Sie überlegte sich sehr gründlich, was sie erwidern sollte. Sie war stark versucht, einer direkten Antwort auszuweichen. Er würde ihr kaum glauben, wenn sie versuchte, ihm ihre ungewöhnliche Gabe zu erklären, schätzte sie. Doch die Tatsache, dass ihm überhaupt aufgefallen war, dass sie etwas außerhalb des Üblichen wahrgenommen hatte, war sehr interessant. Sie war bislang nur wenigen Menschen begegnet, Männern wie Frauen, die das vermutet hätten.
Und plötzlich war ihre Neugier geweckt. Sie wollte wissen, wie er wohl auf die Wahrheit reagieren würde.
»Ich bezweifle, dass Sie mir glauben werden«, sagte sie und wappnete sich gegen unverhohlene Skepsis, »aber ich habe eine Aura paranormaler Energie um den flüchtenden Mann gesehen.«
Das Glas in seiner Hand erstarrrte auf halbem Wege zu seinem Mund.
»Heiliges Kanonenrohr«, entfuhr es ihm kaum hörbar. »Ich hatte so etwas schon vermutet, aber ich konnte mir nicht sicher sein.«
»Wie bitte?«
»Egal. Erzählen Sie mir von den Auren, die Sie sehen.«
Sie hatte Ungläubigkeit erwartet, keine interessierte Frage. Sie brauchte einen Moment, um sich darauf einzustellen.
»Sie erscheinen in Form von Energiewellen, die um die Person pulsieren«, erklärte sie.
»Sie sehen diese Auren um jeden herum, dem Sie begegnen? Das muss recht verwirrend sein.«
»Ich sehe sie nur, wenn ich mich darauf konzentriere und mich bewusst bemühe, sie zu erkennen. Dann ist es, als würde ich die Welt auf einem Fotonegativ betrachten. In diesem Zustand kann ich Auren erkennen.«
»Interessant.«
»Ich erwarte nicht, dass Sie es verstehen, aber ich versichere Ihnen, sollte ich dem Mörder noch einmal begegnen und hätte ich Veranlassung, ihn mit meiner paranormalen Sicht anzuschauen, dann würde ich ihn sehr wahrscheinlich wiedererkennen.«
»Wirklich?«, sagte er nachdenklich.
Sie wusste nicht, wie sie diese Bemerkung verstehen sollte, daher fuhr sie hektisch fort, erpicht darauf, ihm die Sache verständlich zu machen.
»Sie verstehen also, warum ich dem Mann von Scotland Yard gegenüber nichts von alledem gesagt habe«, sagte sie. »Ich bezweifle sehr, dass er mir geglaubt hätte. Sie haben ja gesehen, wie er mich behandelt hat. Er hat angenommen,
dass ich unter einem Schock litt und am Rand der Hysterie stand.«
»Stimmt.« Gabriel lehnte sich gegen die Schreibtischkante. »Er hat die meisten Fragen an mich gerichtet, nicht wahr?«
»Weil Sie ein Mann sind.«
»Und weil er mich für Ihren Ehemann gehalten hat.«
»Das auch.« Sie verzog das Gesicht. »Selbst wenn ich dem Detective von der Aura des fliehenden Mannes erzählt hätte, hätte es ihm nicht weitergeholfen. Es hat keinen Zweck, jemandem das paranormale Energiemuster einer Person zu beschreiben, wenn er außerstande ist, es wahrzunehmen.«
Gabriel musterte sie einen Moment lang. »Sie sagen also, dass jede Aura anders ist?«
»Ja. Auren unterscheiden sich deutlich von einem Menschen zum anderen. Da sind Farben, aber ich
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