Verzaubertes Verlangen
tun hatten. Außerdem waren sie hier nicht im abgeschiedenen Arcane House, wo niemand je herausfinden würde, was zwischen ihr und Gabriel passierte. Gabriel war nicht länger eine harmlose Phantasie, der sie sich hingeben konnte, ohne eine Katastrophe heraufzubeschwören.
Sie waren in ihrem Arbeitszimmer, herrje. Amelia und Beatrice und Edward waren oben im Haus. Mrs. Trench schlief in ihrer kleinen Stube neben der Küche. Falls irgendeiner
von ihnen aufwachen sollte, könnten sie Geräusche hören und kommen, um nachzuschauen.
Sie befanden sich in der realen Welt, ermahnte sie sich. Hier waren die Dinge anders.
Doch Gabriel hakte das Mieder ihres Kleides auf. Seine Lippen pressten sich auf die ihren, verwirrend, verstörend. Sie schloss bebend die Augen und klammerte sich an ihn, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
»Ich habe mich nicht geirrt, oder?«, keuchte er, und seine Stimme war kehlig von Verlangen.
»In welcher Beziehung?«, hauchte sie.
»Jene letzte Nacht in Arcane House. Sie wollten in meinen Armen liegen. Sie wollten mich.«
Ungewissheit packte sie. Jene Nacht war vollkommen gewesen oder zumindest fast vollkommen. Doch die heutige Nacht war es nicht. Die ganze Situation stimmte nicht, und Gabriel war nicht mehr ihr mysteriöser geheimer Liebhaber, der vor fremden Blicken verborgen bleiben konnte. Er wohnte oben im Haus in der Dachkammer, herrje. Sie würde ihm morgen früh am Frühstückstisch gegenübersitzen müssen. Noch dazu vor der ganzen Familie.
»Ja«, hauchte sie. »Aber das war damals, und dies ist jetzt.«
Er stockte. »Gibt es jemand anderen? Ich habe mir eingeredet, dass Sie in so kurzer Zeit nicht das Interesse an mir verlieren würden. Obgleich ich gestehen muss, dass ich mich heute Abend, als Sie aus dem Ausstellungssaal verschwunden sind, gefragt habe, ob ich mich verrechnet hätte.«
Verrechnet schien ihr eine sonderbare Wortwahl. Verrechnet war ein Wort, das man benutzte, wenn man eine
Strategie ersonnen hatte, die fehlgeschlagen war. Verrechnet war kein Wort, dass ein Liebender benutzte. Zumindest glaubte sie das nicht.
Sie nahm ihre Arme herunter, die sie um Gabriels Hals geschlungen hatte, und legte ihre Handflächen gegen seine Brust.
»Gibt es jemand anderen?«, fragte er noch einmal tonlos. Seine Augen blitzten im Feuerschein gefährlich.
»Nein«, gestand sie. »Meine Güte, in den letzten drei Monaten war ich voll und ganz mit dem Umzug nach London und dem Aufbau meines eigenen Ateliers hier beschäftigt. Ich hatte keine Zeit, jemand anderen zu finden. Das ist nicht das Problem.«
Er lächelte. Sie konnte spüren, wie sich seine Muskeln entspannten.
»Ich verstehe«, sagt er und streichelte ihren Hals mit seinen Fingerspitzen. »Die heutigen Ereignisse haben zweifellos Ihre Nerven angegriffen.«
Das war eine brauchbare Ausrede, entschied sie.
»Ja, das stimmt.« Sie wich nachdrücklich einen Schritt zurück. »Sie müssen entschuldigen, Sir. Heute haben sich viele erschreckende Ereignisse zugetragen. Man könnte fast sagen, dass die Ereignisse über mich hereingebrochen sind wie ein Wolkenbruch. Der Schock Ihrer Rückkehr. Das sonderbare Geheimnis um die Formel des Alchemisten. Der Fund von Burtons Leiche. Es ist alles einfach zu viel. Ich glaube nicht, dass ich unter diesen Umständen so klar denken kann, wie ich es sollte.«
Er zog amüsiert die Mundwinkel hoch. »Ganz im Gegenteil, Mrs. Jones, dies ist eine jener seltenen Situationen, in denen man sich nicht gänzlich von Logik und klarem
Denken leiten lassen sollte.« Sanft zog er die Kanten des Mieders ihres Kleides zusammen. »Nichtsdestotrotz würde ich Sie unter diesen Umständen niemals bedrängen. Sie brauchen Zeit, um sich von all den schockiernden Erlebnissen zu erholen.«
»Ganz genau, Sir.« Sie hielt das Mieder ihres Kleides fest zusammen, während sie sich fragte, ob sie wegen seiner Rücksicht erleichtert oder verletzt sein sollte. Wenn seine Leidenschaft tatsächlich noch Augenblicke zuvor so feurig gelodert hatte, würde er dann nicht etwas nachdrücklicher versuchen, sie zu überreden? »Ich weiß Ihr Verständnis zu schätzen.«
Er beugte sich vor und strich ganz sacht mit seinen Lippen über die ihren. »Ich bin nicht verständnisvoll, sondern schlicht pragmatisch, meine Liebste«, erwiderte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Wenn wir uns das nächste Mal lieben, möchte ich nicht, dass Sie hinterher irgendwelche Zweifel oder Bedauern empfinden.«
Sie war nicht sicher,
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