Verzweifelte Jahre
habe ich eine Broschüre zugeschickt bekommen. Finanzanalysen, Einschulung jederzeit möglich.
Zehn Leute waren wir in dem Kurs. Hoffentlich erkennt mich keiner, dachte ich, als ich mich ganz ans Ende des großen Tisches in dem Konferenzraum setzte. Die Sorge war unbegründet. Die anderen waren großteils wesentlich jünger als ich, und jeder mit sich selbst beschäftigt. Keiner wusste so recht, was da auf uns zukommen würde. Das Thema klang kompliziert. Wenn du es nicht kapierst, gehst du halt wieder, hatte ich mich beruhigt.
Ein mittelgroßer Dunkelblonder in einem hellgrauen Anzug kam herein. Der wird Versicherungsvertreter, hatte irgendwer da oben vor seiner Geburt festgelegt. Bürstenhaarschnitt, Krawatte, vermutlich am Hals angewachsen, eine Uhr, halb Stahl, halb Gold, Schuhe mit Eisen an den Sohlen, damit man die Wichtigkeit schon am Schritt hört. Er war mir auf den ersten Blick unsympathisch. Mein Widerwille besserte sich, als er den Mund aufmachte. Er sprach mit kräftiger Stimme und platzierte die Worte, als käme es auf jedes »Und« an. Er drückte sich gewählt aus, er hätte Fernsehpriester werden können, wenn ihm nicht ab und zu ein kleines Missgeschick beim L entkommen wäre. Meidlinger L nennen die Wiener das, und meinen damit einen gewissen proletenhaften Einschlag. Ein Kompliment war das nie, ich kannte mich da aus, ich komme aus Meidling.
»Sind Sie an Geldverdienen interessiert ?« , fragte er uns an Stelle einer Begrüßung. Und dann erklärte er uns, wie das geht. »Dass wir uns richtig verstehen: Ich meine viel Geld verdie nen. Es ist gar nicht schwer. Schauen Sie, meine Damen und Herren, ich rede hier vom schönsten Job, den Sie sich vorstellen können. Man macht Geld im Handumdrehen. Man verdient Geld, indem man sich mit Leuten unterhält, was man ja sonst auch macht .« Ich nicht, dachte ich. »Man verdient Geld, indem man den Leuten hilft. Wir sind Samariter mit sechsstelligem Jahreseinkommen .« Er wartete auf den Lacher, den er offenbar gewöhnt war. Es kam keiner. Er steckte die Schmähung lässig weg. »Wie tun wir das eigentlich? Nicht, dass Sie glauben, wir sind Versicherungskeiler. Nein«, er hob den Arm, als wäre er mitten in der Bergpredigt, »wir wissen, was wir tun, und die Menschen in unserer Umgebung schenken uns Vertrauen. Und zu Recht. Weil wir mit unserem umfangreichen Potpourri«, an dem Wort übernahm er sich etwas, »an Angeboten ermöglichen es unseren Geschäftspartnern, sich im Monat ein-, zwei-, dreihundert Euro zu sparen, und uns auf die Schnelle das Dreißigfache zu verdienen .« Ein paar der Kollegen zogen die Luft ein. Der Bürstenkopf verzog den Mund zu etwas, das ein Lächeln sein sollte, zuckte mit den Armen, um an seine Manschettenknöpfe zu gelangen und nestelte daran herum. Der Trick funktionierte, jeder von uns hatte das Gold an seinem Ärmel gesehen. »Ich werde Ihnen jetzt etwas zeigen«, fuhr er fort, ging mit einem so betont forschen Schritt zu einem Beistelltisch an der Wand, dass seine genagelten Schuhe kleine Einkerbungen in dem mausgrauen Spannteppich hinterließen, zog die Masche auf, die einen Stoß Papier zusammenhielt, und nahm einen Folder heraus, zweimal vier Seiten, ineinandergeschoben. »Das ist der Schlüssel zu Ihrem Reichtum, das Geheimnis Ihres Erfolgs .« Er reichte die Unterlagen dem Mann, der ihm am nächsten saß. »Geben Sie das weiter .« Kann auch nicht bitte sagen, dachte ich. Er wartete, bis die Blätter durch waren, sich mit schnödem Papier die Aufmerksamkeit zu teilen, war unter seiner Würde. »Mit dieser Finanzanalyse erheben wir den kapitalen Ist-Zustand unserer Geschäftspartner .« Interessant, dachte ich. Ich war die Letzte, die die Zettel bekommen hatte, sie lagen noch vor mir. Es war nichts anderes als ein Fragebogen. »Bevor wir den Menschen eine optimale Finanzberatung angedeihen lassen, müssen wir erst einmal wissen, was sie haben. An Geld. An Krediten. An Versicherungen. Sie sehen«, er fingerte nach dem Papierzeug vor mir, »hier wird der Name ausgefüllt, hier die Adresse... « Er erklärte uns die Volksschule. »Sie als Finanzdienstleister gehen mit Ihrem Geschäftspartner diese Punkte durch und erfahren damit alles von ihm. Vorausgesetzt, Sie können ihn dazu bewegen. Ich jedenfalls zweifle nicht an Ihnen. An keinem von Ihnen.« Er sah einem nach dem anderen in die Augen. Er schritt zu einem Diaprojektor und schaltete ihn ein. Auf der weißen Wand gegenüber erschien ein heller Fleck mit drei bunten
Weitere Kostenlose Bücher