Verzweifelte Jahre
sich verlassen. Unglaublich, was man alles aushält, dachte ich oft. Ich war ja nicht die Erste, die etwas zu ertragen hatte, und wenn es mir einmal nicht ganz so schlecht ging, sagte ich mir, dass es schon grausamere Schicksale gab als meins. Was die Leute im Krieg erleben mussten. Ab und zu brauchten meine Essen-auf-Rädern-Kunden etwas mehr Ansprache als Grüß Gott und Mahlzeit, dann lief ihnen die Erinnerung über, und sie wollten die Geschichten von damals loswerden. Wie das war mit dem Bombenalarm, wenn die Sirenen heulten, sie in den nächsten Luftschutzkeller rannten, mit den Kindern am Rockzipfel und dem Köfferchen, in das die wenige Habe gepackt war, die vielleicht das Einzige sein würde, was sie in ein paar Minuten noch besitzen würden. Ein alter Mann erzählte mir, wie er das Konzentrationslager überlebt hatte, er, als Einziger seiner gesamten Familie, und dass er heute noch keine Nacht durchschlafen kann. Das sind Prüfungen, dachte ich. Und ein paar Stunden nützte mir der Vergleich. Ich hatte ja die Hoffnung.
Mit Herrn Tsekas unterhielt ich mich bei einem Treffen ausführlich darüber. »Hoffnung«, sagte er, »was für ein Wort .« Ich zündete mir eine Zigarette an, und bevor ich noch den Rauch ausblasen konnte, redete er schon weiter. »Ich hab das letzthin im Lexikon und im Internet nachgeschaut«, sagte er. »Da steht: Hoffnung ist ein Wunsch oder eine Erwartung. Eine umfassende, emotionale, zuversichtliche, innere Ausrichtung auf die Zukunft.« »Ja«, sagte ich, »ich hätt’s nicht so ausdrücken können, aber genauso spür ich es .« »Jean Paul Sartre«, sagte er und sah mich kurz an. »Das ist der französische Philosoph, der bedeutendste und repräsentativste Intellektuelle des zwanzigsten Jahrhunderts. Erzähler, Dramatiker, Essayist. Seine Beziehung zu Simone de Beauvoir war übrigens... « Er sah meinen Blick. Nicht, dass ich noch nie von dem gehört hätte, ich wunderte mich nur darüber, wie Herr Tsekas sich plötzlich für einen toten Franzosen erwärmte. »Na, egal«, sagte er. »Jedenfalls hält Sartre die Hoffnung für das belebend Umgekehrte der Furcht und das Stärkste und Beste, was es gibt. Und wenn wir schon bei den Philosophen sind: Immanuel Kant hat geglaubt, dass der Himmel den Menschen als Gegengewicht zu den vielen Mühseligkeiten des Lebens drei Dinge gegeben hat: die Hoffnung, das Lachen und den Schlaf .« Er grinste mich an. »Sie haben wenigstens zwei davon bekommen. Aber das wird schon mit dem Schlaf, Sie werden sehen .« »Und wie sehen Sie die Hoffnung ?« Sein Ausflug ins Vergeistigte hatte mich beeindruckt. Und ich war sicher, er hatte das alles nicht extra nachschauen müssen. Herr Tsekas war bescheiden und er protzte nicht gern. »Ich sehe das schon ähnlich«, erwiderte er. »Die Psychologie bringt es ganz gut auf den Punkt. Sie sieht die Hoffnung als eine Art Motivationssystem, das uns, wenn nötig, übermenschliche Kraft verleiht, um jedes Ziel zu erreichen, solange es nicht utopisch ist .« Vor dem letzten Halbsatz hatte er eine Sekunde gezögert und gehofft, dass ich es nicht bemerkte. Es war mir nicht entgangen, aber das behielt ich für mich. Für mich war Nataschas Rückkehr kein utopisches Ziel. Es hatte nur kein Datum, das man sich im Kalender eintragen und die Tage abstreichen konnte. Diese Zeitlosigkeit war das Quälendste. Und es wurde schwieriger und schwieriger, sich damit abzufinden. Je länger wir in unserem Ausnahmezustand lebten, desto deutlicher sahen wir auch die Auswirkungen auf die Kinder. Claudia, Sabina und ich hatten uns zwar bemüht, meine Enkel von dem allen möglichst abzuschirmen. Aber der Instinkt kleiner Kinder ist unfehlbar, sie müssen dazu gar nichts hören, sie fühlen es. Und sie hatten ihre Probleme damit. Markus hatte die erste Klasse Volksschule wiederholen müssen. Er hatte sich nicht genug konzentrieren können, seine Leistungen in der Schule waren abgefallen, seine Noten eine Katastrophe gewesen. Bei René war es vielleicht noch komplizierter. Wir sind zum Direktor zitiert worden, weil er ein anderes Kind geschlagen hatte, grundlos. »Irgendwo müssen sie ihre Aggressionen abreagieren«, sagte Herr Tsekas. »Man kann sich gar nicht vorstellen, was da in so einem kleinen Hirn los ist, und Kinder haben noch nicht die Möglichkeit, die Dinge analytisch anzugehen .« Er hatte mir was angetan mit dem Stichwort. Analytisch überlegte ich mir, warum ich mir im Fernsehen, das durchgehend bei mir lief, wenn ich daheim
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