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Verzweifelte Jahre

Verzweifelte Jahre

Titel: Verzweifelte Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitta Sirny-Kampusch
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Rechtecken drauf. »Das«, sagte er, während er den Raum durchquerte, »ist das Drei-Säulen-Prinzip der Finanzabsicherung .« Er griff nach einem Zeigestock und tippte auf die linke Säule. »Das ist Einkommen durch Job .« Zweite Säule. »Pension, sofern es überhaupt eine gibt .« Dritte Säule. »Aber das hier«, kleine Pause, »ist die Eigenvorsorge .« Große Pause. »Sehen Sie, meine Damen und Herren, das Wichtigste im Leben kommt zu kurz. Weil die Leute nicht an das Morgen denken. Weil die Leute nur im Jetzt leben .«
    Er holte die nächste Folie aus seinen vorbereiteten Unterlagen und legte sie auf den Projektor. Die Statistik von morgen stand ganz oben, darunter die Jahreszahlen 2002, 2012, 2022 und kleine schwarz Strichmännchen, die letzten in manchen Reihen nur zur Hälfte ausgemalt. »Das Pensionssystem ist krank. Es ist noch gar nicht lange her«, sein Arm dirigierte ein unsichtbares Orchester, »da erhielten drei arbeitende Menschen einen Pensionisten. Das war gut. Aber die Leute werden immer älter. Heute sind wir mit der Situation konfrontiert, dass ein Arbeiter einen Rentner erhalten muss. Wie schaut das in zehn Jahren aus, meine Damen und Herren ?« Zeigestock. »Ein Arbeiter muss zwei Pensionisten ernähren. Das kann sich nicht ausgehen. Und in zwanzig Jahren... « , er schaute uns erwartungsvoll an, »na?... « Die Frau zwei Sessel neben mir war schon vom Übereifer überfallen. »Drei Pensionisten«, sagte sie, »ein Arbeiter muss drei Pensionisten erhalten .« »Genau«, sagte der Hellgraue wie zu einem altklugen Kind. »Was wiederum bedeutet, dass das System kaputt ist. Die Lösung heißt... « Er machte es richtig spannend. »Eigenvorsorge. Wir verhelfen Menschen zu Lebensversicherungen, damit sie später finanziell überleben .« Es hörte sich an, als hätte er gerade ein Mittel gegen Krebs gefunden, nämlich Geld. »Jeder von uns kennt mindestens hundert Leute. Und das ist Ihr Startkapital. Mit denen fangen Sie an. Mit jedem machen Sie die Finanzanalyse .« Der Folder schnellte in die Höhe. »Angenommen, Sie machen nur drei Analysen pro Tag, was schon sehr kümmerlich ist, sind Sie in vier Wochen durch. Sieben von zehn Menschen nehmen unsere Hilfe in Anspruch. Provision: mindestens hundert Euro. Mal siebzig sind siebentausend. Siebentausend Euro. Schlecht für den Anfang?« Mir würde es reichen.

13

    »Betreten verboten« steht auf dem Holzschild. Im ersten Augenblick verstehe ich gar nicht, was das heißt. Zwei einfache Worte, und plötzlich ist der ganze Tag in Unordnung. Wir waren nur deshalb nach Mariazell gefahren. Um eine Kerze anzuzünden in der Basilika. Wie jedes Jahr. Ich bewege mich nicht. »Betreten verboten«, lese ich noch einmal. »Eltern haften für ihre Kinder .« Ausgerechnet, denke ich. »Wegen Renovierung geschlossen.« Gerade heute. »Was ist los, Omi ?« Helena zupft mich an der Hose. »Die Lichterlgrotte ist zu«, sage ich. »Wir können kein Kerzerl anzünden. Ihr wisst doch, warum wir das immer tun .« Alina schaut die anderen an. Sie ist die Kleinste und macht sich noch nichts aus Kerzen und Renovierungen. »Ich weiß, warum«, sagt Michelle. »Für die Natascha.« Ich nehme meine Enkelinnen an der Hand, drehe mich um und lasse die Kirche hinter mir. Es hat keinen Sinn. Und die Kinder haben Hunger. Es ist Mittag. Kurz nach halb eins.

    *

    »Ich will Würstel«, sagt Michelle. »Ich Pommes«, ruft Helena. Es geht hoch her über den Speisekarten in der Konditorei Pirker in Mariazell. Ich bestelle. Für mich nur Kaffee. Mir ist nicht nach Essen. »Wollt ihr Ketchup ?« , frage ich. Die Würstel kommen mit den Pommes frites. Die Mädchen sind beschäftigt. Das Ketchup ist längst nicht mehr nur am Teller. Ich krame in meiner Tasche nach einem Taschentuch.
    »Komisch«, sage ich, »jetzt hab ich das Handy vergessen .« Den Kindern ist es egal. »Was machen wir eigentlich, wenn die Natascha wieder kommt ?« Auf einmal ist es still. Ich schaue meine Enkelin an. Michelles Frage kommt ansatzlos, aus dem Nichts. Seit achteinhalb Jahren hängt sie in der Luft. Seltsam, dass sie noch niemand gestellt hat. So konkret. Ich habe plötzlich Gänsehaut, bei Sonnenschein und sechsundzwanzig Grad. »Kein Problem«, sage ich. Ich fange sich schnell in solchen Fällen, nach allem, was ich hinter mir habe. »Wir haben schon alle Platz in der Wohnung, die ist groß genug .« Ich nehme meine Kaffeetasse. »Wir werden ihr das Zimmer frisch ausmalen«, sage ich, »in einem hellen

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