Verzweifelte Jahre
da war es schon zu spät, ich hätte es nicht mehr rechtzeitig zum Dreh geschafft. Ich hab so ein schlechtes Gewissen .« »Wart, Mama, jetzt geht’s los .« Auf dem Bildschirm erscheint Natascha. Sie trägt eine violette Bluse und ein violett gemustertes Kopftuch. »Hätte ich wetten können, dass sie was Violettes anhat«, sagt Sabina. »Ihre Lieblingsfarbe«, sage ich. Der Interviewer stellt seine erste Frage. Sie sind zwei Wochen in Freiheit, was haben Sie erlebt, was machen Sie? Na ja, sagt Natascha, in erster Linie von den Strapazen der Flucht erholen, mit meinen Eltern telefonieren. »Sie klingt total souverän«, sagt Sabina. Gestern hat mein Neffe Geburtstag gehabt, fährt Natascha fort. Er hat sich gewunschen, dass ich ihn anrufe, was ich auch gestern noch erledigt habe, obwohl ich viel zu tun habe. Sie sind im Stress, bemerkt der Interviewer. Schon. Wer sind denn die Menschen, mit denen Sie am meisten sprechen, denen Sie auch am meisten vertrauen? Da bin ich aber jetzt gespannt, denke ich. Ja, also, denen ich am meisten vertraue, mh, weiß nicht. Der Dr. Friedrich zum Beispiel. Links im Hintergrund ist er zu sehen. Er hat sein Gesicht für die Öffentlichkeit aufgesetzt und lächelt bescheiden. Natascha redet weiter: Aber auch die ganzen Psychologen und so, die sich um mich kümmern. Aber hauptsächlich vertraue ich eigentlich, mh, meiner Familie. Und auf mich halt. Natascha lächelt auch. Ihre Bescheidenheit wirkt ganz natürlich. Mh, das ist gut, nickt der Interviewer. Sie sind da jetzt ziemlich von der Außenwelt abgeschirmt, Sie haben auch in Ihrem Brief geschrieben, dass es Ihnen hier sehr gut geht und dass man Sie supergut behandelt, Sie haben aber auch gesagt, Sie fühlen sich vielleicht ein bisschen bevormundet.
Gut, dass er das anspricht, denke ich. Ja, sagt Natascha, das wollte ich gerade andeuten. Es ist wirklich sehr schwer. Alle Leute wollen einen irgendwie beeinflussen, sie meinen es zwar gut, aber zum Beispiel die ersten Nächte haben sie versucht, mich dazu zu bringen, zu schlafen. Sie konnten am Anfang nicht verstehen, warum ich um vier Uhr in der Früh schon munter bin und mich erst um elf oder so schlafen lege. Aber ich hab sie davon überzeugt, dass ich das schon selbst in den Griff bekommen werde. Und ohne Schlafmittel oder sonst irgendwelche Medikamente auskomme. »Ganz dein Kind«, sagt Sabina, »nur keine Chemie .« Sie sind eine Frühaufsteherin ?, fragt der Interviewer. Ja, sicher. Was war der erste Wunsch, den Sie sich erfüllt haben? Diese Frage bringt Natascha erstmals ein bisschen aus dem Konzept. Sie dreht sich Hilfe suchend zu dem Beraterteam um, das vollständig versammelt in einem Halbkreis hinter ihr sitzt. Kann sich da irgendwer erinnern ?, fragt sie. Mir kommen fast die Tränen. Die Geste ist ungemein sympathisch. Meine Tochter, denke ich. Der Interviewer winkt ab: Ist nicht so wichtig, es hat wahrscheinlich so viele gegeben. Ja, schon. Natascha, es gab sehr viele Wünsche und... Der hauptsächlichste Wunsch, den ich mir erfüllt habe in den letzten Tagen, ist eben die Freiheit. Was ich eigentlich wissen wollte, weil Sie ja ziemlich abgeschieden sind von der Öffentlichkeit, und ich wollt eigentlich fragen , waren Sie trotzdem schon draußen, so spazieren, einkaufen? Ja, ja, mhm, ja einkaufen war ich... ich war inkognito Eis essen. Wie hat dieses Inkognito ausgeschaut? Also, ich war mit dem Dr. Berger, ah, auf der Währinger Straße in einem Eissalon, aber wir wollen ja keine Werbung machen, ich hatte ein Kopftuch auf, und da hat man mich nicht erkannt.
Ich nehme mir eine Zigarette aus der Packung. »Toll, wie sie das macht, oder ?« Sabina gibt mir Feuer. »Da können wir schon stolz sein auf sie, sie ist eine wirklich... « »Psst«, unterbreche ich Sabina und zeige auf den Fernseher. Wie war das erste Wiedersehen mit Ihren Eltern? Ja... das Komische war, dass meine Eltern sowie sämtliche Verwandten mehr geweint... also sie haben geweint und mich umarmt und gedrückt. Und ich... ich weiß nicht. In dem Moment... Es war ein bissel viel? Emotional? Ja, schon. Ich habe mich ein bisschen überfordert und ein bisschen beengt gefühlt... durch dieses plötzliche Einfallen. Die Polizisten zum Beispiel. Die haben es ja auch nicht gefasst, die wollten mich fast vor Glück zerquetschen. Und Sie brauchen ein bissel, um das zu realisieren? Ja, sicher, sicher. Weil... ich meine, nicht so sehr ich, sondern eher mehr die Polizisten, weil die haben... sie haben mir erzählt, dass
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