Verzweifelte Jahre
sie ein paar Tage, bevor ich floh, noch eine Genehmigung beantragt haben, um nach meiner Leiche zu graben. Und sie haben die Hoffnung schon fast aufgegeben. Dazu muss ich noch sagen: Meine Mutter hat die Hoffnung nie aufgegeben, dass ich noch lebe. »Das hat sie schon gewusst, bevor ich es ihr erzählt habe«, sage ich. Was ist das jetzt für eine Verbindung, fragt der Interviewer, acht Jahre liegen da jetzt dazwischen? Das liegt bei uns nicht dazwischen. Die Öffentlichkeit meint ja, ich sei kein gutes Kind, oder meine Mutter sei keine gute Mutter, weil sie mich nicht bei sich haben möchte. Oder ich sie bei mir haben möchte. Aber bei uns ist es eher so, als wären überhaupt... als wäre gar nichts geschehen.
*
... wollen Sie uns erzählen, was an diesem Morgen, dem 2. März 1998 passiert ist ?, fragt der Interviewer.
Ja, möchte ich. Nataschas Stimme bricht. Man kann sehen, wie sie diese furchtbaren Minuten im Geiste noch einmal durchmacht. Und ich habe das Handy nicht gehört, denke ich.
Also, ich bin früh aufgestanden, hab natürlich noch nicht geahnt, was passiert. Ich war sehr traurig, es gab am Abend eine Auseinandersetzung mit meiner Mutter, weil mein Vater mich zu spät nach Hause brachte und das schon öfters vorkam, und das, ja... Meine Mutter war vordringlich auf meinen Vater böse, aber irgendwie auch auf mich. Und ich war sehr traurig darüber, weil es war nicht der erste, es war nicht der erste diesbezügliche Streit und so. Mh.
Bis zu dieser Frage hat sie fast druckreif geredet. Jetzt macht sie erstmals kleine Pausen. Übrigens, das, was mit dieser Auseinandersetzung da geschildert wurde in den Medien, dass meine Mutter mir eine Watschen gegeben haben soll oder so, das stimmt nicht. Oder jedenfalls nicht in der Form, wie das in den Medien geschildert wurde. »Prügelmutter«, sagt Sabina. Ich war einfach nur so geknickt. Bevor ich aus der Wohnungstür gegangen bin, hab ich mir noch gedacht... Meine Mutter hat nämlich diesen Merksatz, dass sie meinte, ah, man soll nie böse auseinandergehen, man soll sich immer vertragen, weil es könnte ja ihr oder mir etwas passieren, und wir sehen uns nie wieder, und ja. Ich dachte mir an der Tür noch, mir ist eh bis jetzt nichts passiert, also vertrag ich mich zum Trotz jetzt extra nicht mit meiner Mutter. »Genau das habe ich mir gedacht, wie ich ihr vom Balkon nachgeschaut habe«, sage ich. Ich, also, bin dann in die Schule gegangen bis zu dieser... Natascha dreht sich wieder zu ihren Gehilfen um. Wie heißt diese Gasse? Mollardgasse? Man hört jemanden antworten, versteht ihn aber kaum. Melangasse, wiederholt Natascha, genau, also bis zur Melangasse und dort aus einigen Metern Entfernung habe ich ihn schon bei seinem Auto stehen gesehen, und ich dachte mir noch, ich wechsel die Straßenseite. Ich weiß auch nicht, aus irgendeinem Bauchgefühl heraus vermutete ich, ich weiß nicht, es war mir einfach unangenehm. Was man auch über diese Kinderverzahrer so gehört hat, in der Schule und so, ich weiß auch nicht, warum. Und dann hab ich aber dieses Bauchgefühl meiner emotionalen, aufgeladenen Stimmung zugeschrieben und bin einfach... dachte mir, der wird dich schon nicht beißen, und bin einfach weitergegangen, und er packte mich, ich versuchte zu schreien, aber es kam kein Laut raus, äh, ja... Ich kann die Tränen nicht mehr zurückhalten. Wie oft habe ich mir überlegt, wie es ihr ergangen sein muss in diesem Moment. Wie oft habe ich versucht, mich in sie hineinzuversetzen. Ich habe das Gefühl, jemand reißt mir das Herz heraus. Hat er da auch etwas zu Ihnen gesagt, hat er mit Ihnen gesprochen ?, fragt der Interviewer. Also, bei dem Reinzerren und... Natascha hustet, sie ist ein bisschen verkühlt, und diese Nacherzählung kostet sie jede Kraft. Sie spricht weiter. Und bevor er... also während des Startens, hat er schon gesagt, dass mir nichts passiert oder so, wenn ich das mache, was er sagt, und dass ich ruhig sein soll und mich nicht rühren soll. Und dann später, also ein paar Minuten später, hat er schon gesagt, dass es angeblich eine Entführung ist. Und wenn meine Eltern etwas zahlen, dann könnt ich noch am selben Tag oder am nächsten... Natascha greift zu einem Taschentuch, knetet es zwischen den Fingern, um sich wieder zu fangen, und wischt sich die Tränen ab .... oder am nächsten Tag wieder zu Hause sein. Nächste Frage: Haben Sie den Weg dann real mitbekommen, also ich mein, da müssen Sie ja unglaubliche Ängste ausgestanden
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